Rz. 301

Den Bindungen des Kindes, insbesondere an seine Eltern, kann bei der Sorgerechtsentscheidung ausschlaggebende Bedeutung zukommen,[1131] insbesondere wenn zu einem Elternteil, der das Kind bereits längere Zeit in Obhut hatte, eine stärkere emotionale Bindung entstanden ist,[1132] während der andere Elternteil aus Gründen, die eigenverantwortlich sind, in die bisherige Entwicklung des Kindes keinen Einblick hatte.[1133] In den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes ist es diesem nur eingeschränkt oder gar nicht möglich, sich darüber zu äußern, zu welchem Elternteil es die gefühlsmäßig stärkere Bindung hat. Um ein Sachverständigengutachten zu vermeiden, muss sich das Gericht daher einen persönlichen Eindruck von dem Kind und seinem Umgang mit den Eltern verschaffen. Nach gesicherten kinderpsychologischen Erkenntnissen baut das Kind in den ersten 18 Lebensmonaten die für die spätere gesunde Entwicklung wesentliche Bindung zu den Personen auf, die in dieser Zeit die tatsächliche Betreuung leisten.[1134] Die zunächst elementare Frage nach den Kindesbindungen verliert an Gewicht, wenn die ersten Lebensjahre befriedigend verlaufen sind. Nach Ablauf von vier bis fünf Lebensjahren kann von wesentlichen Gefahren nicht mehr ausgegangen werden, wenn ein Halt gebendes Vertrauensverhältnis zu einer neuen Bezugsperson besteht.[1135] Nach Abschluss des Kleinkindalters ist dem Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität und Stabilität ein deutlich höheres Gewicht beizumessen als dem Kriterium der primären Bindung.[1136] Kann weder nach dem Kontinuitäts- noch nach dem Förderungsgrundsatz zugunsten eines Elternteils ein Übergewicht festgestellt werden, so kommt den Bindungen des Kindes zu einem Elternteil meist entscheidende Bedeutung zu.[1137] Bei gleich starker Bindung kann gegebenenfalls letztlich maßgeblich sein, welcher Elternteil emotional umfassender zur Verfügung steht.

 

Rz. 302

Auch die Bindungen zwischen den Geschwistern sind regelmäßig zu beachten,[1138] selbst wenn es sich um Halbgeschwister handelt.[1139] Daher gilt der Grundsatz, eine Geschwistertrennung nach Möglichkeit zu vermeiden, wenn dafür nicht belastbare Gründe streiten.[1140] Für die Kindesentwicklung ist es regelmäßig wichtig und förderlich, mit Geschwistern gemeinsam aufzuwachsen und erzogen zu werden,[1141] wobei maßgeblich auch auf das Verhältnis der Eltern zueinander abzuheben ist. Je zerrütteter deren Beziehung ist, umso wichtiger ist der Kindeswille, nicht getrennt zu werden,[1142] so dass gegebenenfalls auch der Kontinuitätsgrundsatz zurücktreten muss.[1143] Da mit der Trennung für die Kinder erhebliche psychische Belastungen verbunden sind, sind die Chancen höher, diese Krise zu überwinden, wenn die Restfamilie vollzählig erhalten bleibt.[1144] In einer solchen Situation steht die Geschwistertrennung dem Kindeswohl definitiv entgegen.[1145] Um die wichtige Geschwisterbindung zu erhalten, kann es gegebenenfalls auch angezeigt sein, die elterliche Sorge dem etwas weniger erziehungsgeeigneten Elternteil zu übertragen.[1146] Selbst eine eventuell bestehende Geschwisterrivalität vermag hieran nichts zu ändern, da diese Bestandteil eines wichtigen sozialen Lernprozesses ist.[1147] Die Frage nach einer Geschwistertrennung steht auch in engem Zusammenhang mit dem von den Geschwistern jeweils bekundeten Willen (siehe dazu auch Rdn 308). Denn äußert ein Kind eine klare Präferenz für einen Elternteil, der unter Berücksichtigung der anderen Kriterien für dieses Kind ausschlaggebend ist, wird dies bei offenem Willen des Geschwisterkindes auch bei der Entscheidung über den Aufenthalt dieses Kindes erhebliche Bedeutung erlangen.[1148]

 

Rz. 303

Denkbar sind aber auch Fälle, in denen es zwingend angezeigt ist, eine Geschwistertrennung vorzunehmen, etwa bei starken Aggressionen, die sich gegebenenfalls durch permanente körperliche Übergriffe zwischen den Geschwistern zeigen,[1149] oder freilich dann, wenn ein Geschwisterkind gegenüber dem anderen sexuell übergriffig ist. Auch eine erkennbar fehlende Bindung der Geschwister zueinander, etwa aufgrund eines großen Altersunterschieds, steht insbesondere bei gegenläufigem Geschwisterwillen einer Geschwistertrennung nicht entgegen (zur getrennten Vermittlung von Geschwistern in Pflegefamilien siehe § 4 Rdn 32).

[1131] OLG Zweibrücken FamRZ 2001, 186; OLG Hamm FamRZ 2000, 1039; dazu eingehend Brisch, Die vier Bindungsqualitäten und die Bindungsstörungen, FPR 2013, 183; Walter, Unterschiede zwischen Beziehungen und Bindungen – was sagen der Gesetzgeber und die psychologische Wissenschaft?, FPR 2013, 177; Bovenschen/Spangler, Wer kann Bindungsfigur eines Kindes werden?, FPR 2013, 187; Lüpschen/Lengning, Wie lässt sich eine sichere Bindung fördern?, FPR 2013, 191; Spangler/Bovenschen, Bindung und Bindungserfahrungen: Konsequenzen für Resilienz und Vulnerabilität im kritischen familiären Kontext, FPR 2013, 203; Doukkani-Bördner, Kindesmisshandlungen im Haushalt der Eltern und elterliche Sorge, FamRZ 2016, 12; Behnisch/Dilthey, "...

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