Rz. 259

Gelangt das Gericht im Rahmen seiner Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht, so muss es auf der zweiten Stufe prüfen, ob die Alleinsorge gerade auf den antragstellenden Elternteil zu übertragen ist. In diese Prüfung kann das Gericht – vorbehaltlich § 1671 Abs. 4 i.V.m. §§ 1666 ff. BGB[974] – nur eintreten, soweit ein Antrag auf Übertragung gestellt ist. Beschränkt sich daher der Elternteil, der eine Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge erstrebt, auf einen Zurückweisungsantrag, kann das Gericht nur dem anderen, antragstellenden Elternteil die (Teil-)Alleinsorge übertragen.[975] Daher sollte jener Elternteil verfahrenstaktisch Hilfsanträge für den Fall stellen, dass das Gericht die gemeinsame Sorge ganz oder teilweise aufhebt (zu den diesbezüglichen Problemen im Rechtsmittelverfahren siehe § 9 Rdn 47).

Auch auf dieser zweiten Prüfungsebene des § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist das Kindeswohl (§ 1697a BGB) der Maßstab. Zu prüfen ist, ob der antragstellende Elternteil besser in der Lage ist, die kindliche Entwicklung und die Erziehung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gewährleisten (siehe auch § 1626 Abs. 2 BGB und § 1 SGB VIII). Die aus Sicht des Kindes und häufig von diesem im Rahmen der Kindesanhörung (siehe dazu Rdn 430) formulierte beste Lösung, dass die Eltern wieder zusammenkommen, kann das Gericht ohnehin nicht erreichen.[976] Aufgabe des Familiengerichts ist es aber, aktiv zum Wohl des Kindes tätig zu werden, Streitpotentiale zwischen den Beteiligten abzubauen und unter Inanspruchnahme der hierzu bestehenden Möglichkeiten eine tragfähige Lösung zu finden.[977] Die Interessen der Eltern sind hierbei nachrangig.[978]

 

Rz. 260

Besondere Bedeutung kommt dabei den Verfahrensgrundsätzen des FamFG zu. Durch das Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 FamFG (siehe dazu auch Rdn 392 f.) hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass in Kindschaftssachen vorrangig zu terminieren ist, um möglichst kurzfristig die rechtliche Situation der Verfahrensbeteiligten verbindlich zu klären und damit insbesondere auch die Kinder aus der Unsicherheit eines länger dauernden gerichtlichen Verfahrens zu lösen.[979] Dies berücksichtigt die zum Umgangsrecht ergangene Rechtsprechung des BVerfG,[980] der zufolge das kindliche Zeitempfinden nicht demjenigen von Erwachsenen entspricht und solche Verfahren die Beteiligten persönlich intensiv betreffen, was eine besondere Sensibilität für den Aspekt der Verfahrensdauer erforderlich macht. Kleinere Kinder empfinden, bezogen auf objektive Zeitspannen, den Verlust einer Bezugsperson – anders als ältere Kinder oder gar Erwachsene – schneller als endgültig. In diesen Fällen ist die Gefahr der Entfremdung zwischen Eltern und Kind, die für das Verfahren Fakten schaffen kann, besonders groß, so dass eine besondere Sensibilität für die Verfahrensdauer erforderlich ist. Ansonsten kann allein durch Zeitablauf die Sachentscheidung faktisch präjudiziert werden.[981]

Zudem obliegt es dem Gericht nach § 156 FamFG in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinzuwirken, wobei den Eltern auch außergerichtliche Möglichkeiten der Streitbeilegung oder Mediation aufzuzeigen sind (siehe dazu Rdn 391).[982]

 

Rz. 261

Die für die Kindeswohlprüfung maßgeblichen Kriterien[983] werden in der Rechtsprechung näher konkretisiert.[984] Bei der allein am Kindeswohl auszurichtenden Frage, welchem der Elternteile die elterliche Sorge zu übertragen ist, sind

die Erziehungseignung der Eltern – einschließlich ihrer Bindungstoleranz –,
die Bindungen des Kindes – insbesondere an seine Eltern und ggf. an seine Geschwister –,
das Förderungsprinzip,
der Kontinuitätsgrundsatz sowie
der Kindeswille

als gewichtige Kriterien zu berücksichtigen.[985]

Außer diesen Aspekten sind je nach den Begleitumständen des Falles weitere Gesichtspunkte wie

die Erziehungsbereitschaft der Eltern,
ihre häuslichen Verhältnisse und
das soziale Umfeld

einzubeziehen.[986]

 

Rz. 262

Diese Kriterien stehen aber letztlich nicht wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander; jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht.[987] Denn sie stehen über den allüberstrahlenden und letztentscheidenden[988] Begriff des Kindeswohls in innerer Beziehung zueinander und können sich gegenseitig verstärken oder aufheben,[989] so dass zuweilen auch ein einzelner Gesichtspunkt ausschlaggebende Bedeutung haben kann.

[974] Dazu OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1649; OLG Nürnberg FamRZ 2013, 1993.
[975] OLG Saarbrücken FamRZ 2012, 1064; FF 2011, 326; FamRZ 2015, 2180; Beschl. v. 5.8.2015 – 9 UF 102/14 (n.v.).
[976] OLG Hamm FamRZ 1996, 1096.
[977] OLG Bamberg FamRZ 1988, 752.
[978] BVerfG FamRZ 1999, 85; OLG Hamm FamRZ 1996, 361; KG FamRZ 2010, 1169.
[979] Zum Beschleunigungsgebot sehr lesenswert Salgo, FF 2010, 352.
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