Rz. 279

Insbesondere bei gemischtnationalen Ehen wird im Zusammenhang mit der Trennung der Eltern von einem Elternteil häufig vorgetragen, dass ein plötzlicher Wegzug des anderen Elternteils in dessen Heimatland drohe. Hier muss beachtet werden, dass eine abstrakte Gefahr als solche nicht ausreicht, um gerichtliche Maßnahmen zu veranlassen.[1062] Erforderlich ist vielmehr, dass ein bevorstehender Umzug aufgrund konkreter Anhaltspunkte naheliegt. Dann kann es dem Familiengericht obliegen, Vorsorgemaßnahmen zu treffen, bis über die Sorgerechtsfrage nach hinreichender Aufklärung des Sachverhalts entschieden werden kann. (Zur einstweiligen Anordnung in Auswanderungsfällen siehe § 7 Rdn 28).

 

Rz. 280

Der BGH hat für die Praxis die Maßstäbe geklärt, die in Fällen einer geplanten Auswanderung eines Elternteils ins Ausland anzulegen sind.[1063] Dieselben Grundsätze gelten für den Umzug eines Elternteils in weite Entfernung.[1064] Oberster Maßstab der gerichtlichen Entscheidung ist das Kindeswohl.[1065] Daneben sind die durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützten Elternrechte beider Eltern zu beachten.[1066] Zur Auflösung dieses Konflikts im Grundrechtsdreieck zwischen beiden Eltern und dem Kind stellt der BGH folgerichtig[1067] nur die Alternativen "Auswanderung mit dem Kind" und "Wechsel des Kindes zum bislang nicht betreuenden Elternteil" gegenüber und fokussiert die Prüfung darauf, wie sich die Auswanderung auf das Kindeswohl auswirkte. Erst innerhalb dieser – rein kindeswohlorientierten – Abwägung können die Motive für die Auswanderungsabsicht eine Rolle spielen.[1068] Die allgemeine Handlungsfreiheit des umzugswilligen Elternteils schließt es aus, dass auch die Möglichkeit des Verbleibs des betreuenden Elternteils mit dem Kind am Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts als tatsächliche Alternative in Betracht gezogen wird, selbst wenn dies dem Kindeswohl ab besten entspräche.[1069]

 

Rz. 281

Für den hiernach abgesteckten Abwägungsrahmen lassen sich der BGH-Entscheidung und der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung folgende Einzelfallkriterien entnehmen, ohne dass diese untereinander in eine Rangfolge gebracht werden können, erschöpfend oder sämtlich von Bedeutung sein müssen:

 

Rz. 282

Örtliche Umstände:

Entfernung des Staates, in den ausgewandert werden soll.
Infrastruktur in diesem Staat (Sicherheit? Internationale oder Auslandsschule? Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten nach Deutschland?).
 

Rz. 283

Persönliche Umstände des Kindes:

Wille des Kindes (siehe dazu Rdn 304 ff.) je nach Alter und Reife, sofern er mit dem Kindeswohl vereinbar und nicht maßgeblich durch einen Elternteil beeinflusst ist; je älter das Kind ist, desto mehr wird der Willensbekundung nicht nur als Ausdruck von Bindungen, sondern auch als Ausübung seines zu beachtenden Rechts auf Selbstbestimmung Bedeutung zukommen. Denn nur dadurch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbstständigem Handeln Rechnung getragen wird, kann das auch mit dem Elternrecht verfolgte Ziel, dass ein Kind sich durch Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann,[1070] erreicht werden.[1071]
Staatsangehörigkeit des Kindes; Vertrautheit mit Sprache und Kultur des fremden Staates.
Resilienz des Kindes in Bezug auf Anpassungsprozesse; ggf. zu befürchtende schädliche Folgen für das Kind durch die Auswanderung (dann kann auch die Erziehungseignung des auswanderungswilligen Elternteils in Frage stehen). Bei kleinen Kindern ist dieser Aspekt eher unproblematisch.[1072]
Wägung des Umstandes, dass im Falle der Auswanderung des bislang betreuenden Elternteils ohne das Kind und dessen Verbleib beim anderen Elternteil in Deutschland das Kind nicht nur seine Hauptbezugsperson verliert, sondern diesen zugleich – zuweilen recht unvermittelt – nicht mehr häufig sehen wird[1073] (hier ist strikt kindesorientiert zu denken; denn die sorgerechtliche Abwägung ist nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils zu orientieren).[1074]
 

Rz. 284

Belange des auswanderungswilligen Elternteils (aber nur in ihren Auswirkungen auf Kindeswohlaspekte; der Auswanderungswunsch ist als solcher zu respektieren):

Staatsangehörigkeit (Aus- oder Rückwanderung in den Heimatstaat?).
Intensität der sozialen Bindungen in diesen Staat, ggf. auch zu einem neuen Partner.
Dortige berufliche und wirtschaftliche Perspektiven (auch unter Abwägung gegen die in Deutschland bestehenden beider Elternteile).[1075]
Getroffene Vorbereitungen.[1076] Bei "Abenteuerauswanderung" kann die uneingeschränkte Erziehungseignung des betreuenden Elternteils anzuzweifeln sein.
 

Rz. 285

Interessen und Möglichkeiten des in Deutschland verbleibenden Elternteils:

Bereitschaft und Möglichkeiten, die Betreuung des Kindes, ggf. auch unter Inanspruchnahme teilweiser Fremdbetreuung,[1077] zu übernehmen.[1078]
Grad der durch die Auswanderung verursachten Umgangseinschränkung und deren Kompensation durch eine ange...

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