Rz. 298
Erhebliche Bedeutung besitzt bei der Prüfung der Erziehungseignung die Bindungstoleranz eines Elternteils, d.h. seine Fähigkeit, einen spannungsfreien Kontakt des Kindes zum anderen Elternteil nicht nur – was selbstverständlich sein sollte – zuzulassen,[1116] sondern den persönlichen Umgang mit dem anderen Elternteil aktiv zu fördern.[1117] Seit Inkrafttreten der Kindschaftsrechtsreform hat die Frage der Bindungstoleranz zunehmend an Bedeutung gewonnen.[1118] Ein hohes Maß an Bindungstoleranz kann durchaus etwaige sonstige ungünstige Rahmenbedingungen kompensieren[1119] und wird insbesondere dann streitentscheidende Bedeutung haben, wenn beide Elternteile in annähernd gleichem Maß erziehungsgeeignet sind und das Kind zu beiden ähnlich starke Bindungen besitzt.[1120] Ein Mangel an Bindungstoleranz muss im Verfahren belegt werden.[1121]
Rz. 299
Der Kontakt auch zu dem Elternteil der das Sorgerecht nicht erhält, ist für die Entwicklung des Kindes von wesentlicher Bedeutung.[1122] Der sorgeberechtigte Elternteil muss daher ohne jeden Vorbehalt bereit sein, den persönlichen Umgang mit dem anderen Elternteil zuzulassen und das Kind entsprechend zu motivieren.[1123] Auf die Umgangskontakte ist aktiv hinzuwirken.[1124] Von einer ausreichenden Erziehungseignung eines insoweit intoleranten Elternteils kann nicht ausgegangen werden.[1125] Hierzu gehört etwa die Abwertung eines Elternteils durch gezielte Bemerkungen oder nonverbales Verhalten, die Zensur dessen Post an das Kind[1126] oder letztlich die Mitverantwortlichkeit für ein PA-Syndrom des Kindes (vgl. dazu Rdn 288).[1127]
Rz. 300
Auch die nachhaltige Unterbindung von Umgangskontakten, d.h. die Missachtung gerichtlicher Maßnahmen, indiziert eine mangelnde Bindungstoleranz.[1128] Dagegen spricht es selbstredend nicht gegen die Mutter, wenn sie Besuche bei den Großeltern so ausgestaltet, dass das Kind, das früher vom Großvater sexuell missbraucht wurde, mit diesem nicht allein zusammentrifft.[1129] Ebenso wenig muss es von fehlender Bindungstoleranz zeugen, mit dem Kind – rechtmäßig – aus nachvollziehbaren Gründen weit wegzuziehen, solange nicht die Absicht dahintersteht, den Umgang des anderen Elternteils mit dem Kind zu beeinträchtigen (zur Umgangspflegschaft siehe § 2 Rdn 39; zur Umgangsvollstreckung siehe § 6 Rdn 30 ff.).[1130]
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