Rz. 239

Dem Antrag eines Elternteils auf Übertragung der elterlichen Sorge ist ferner dann stattzugeben, wenn zu erwarten ist, dass die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil die dem Kindeswohl am ehesten gerecht werdende Entscheidung ist (dazu Antragsmuster im Formularteil, siehe § 13 Rdn 5 ff.).

 

Rz. 240

Freilich bedeutet die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil stets auch einen vollständigen Sorgerechtsentzug zu Lasten des anderen Elternteils. Trotzdem ist § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB unzweifelhaft verfassungsgemäß. Anders als in Fällen der amtswegigen Regelung des Sorgerechts nach § 1666 BGB (ggf. i.V.m. § 1671 Abs. 4 BGB)[881] stehen sich in den Fällen des § 1671 Abs. 1 und Abs. 2 BGB nicht der Staat einerseits und ein oder beide Elternteile andererseits gegenüber, so dass nicht die Schranken gelten, die Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG staatlichen Zwangseingriffen in die elterliche Sorge setzt. Vielmehr stehen sich die Eltern – also auf beiden Seiten Grundrechtsträger – gegenüber, die sich gleichermaßen auf ihr Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG berufen können. Darüber, wie Elternrechte und -pflichten zwischen den Eltern in diesem Konfliktfall zu verteilen sind, sagt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nichts aus. Können sich die Eltern hier nicht einigen, muss der Staat aufgrund seines Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG entspringenden Wächteramts für eine Regelung Sorge tragen, die dem Kindeswohl am besten entspricht;[882] dies hat der Gesetzgeber mit § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB – verfassungsrechtlich, aber auch menschenrechtlich[883] unbedenklich – unternommen.

 

Rz. 241

Die sogenannte "große Kindeswohlprüfung" in § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB erfordert zwei Prüfungsschritte:

Die Aufhebung der gemeinsamen Sorge muss als solche im Interesse des Kindes liegen und
die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge gerade auf den antragstellenden Elternteil muss sich als die dem Kindeswohl am besten entsprechende Entscheidung darstellen.
 

Rz. 242

Oberster Maßstab der jeweils zu treffenden Entscheidung ist das Kindeswohl (§ 1697a BGB);[884] im Zentrum der Betrachtung steht das Kind. Kollidieren die Kindesinteressen und die Elterninteressen, so kommt denen des Kindes der Vorrang zu.[885] Zum Kindeswohl gehört auch der Schutz des Kindes vor eigenmächtigem Handeln eines Elternteils. Zu beachten ist, dass die Kinder als Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung selbst Grundrechtsträger nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG sind.[886] Hinzu kommt der auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gegründete grundrechtsunmittelbare Anspruch des Kindes gegen beide Elternteile auf Pflege und Erziehung.[887] Hieraus folgt, dass das Gericht gegebenenfalls eine entsprechende Antragstellung anzuregen hat, was auch mit dem in § 156 FamFG niedergelegten Grundsatz in Einklang steht, dass das Familiengericht in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen hinzuwirken hat.[888] Die Anordnung eines Wechselmodells gegen den Willen eines Elternteils ist jedoch nicht realisierbar (siehe dazu Rdn 326).

[881] Dazu OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1649; OLG Nürnberg FamRZ 2013, 1993.
[882] BVerfG ZKJ 2014, 379; FamRZ 1994, 223; BVerfGE 31, 194; 61, 358; OLG Saarbrücken, FamRZ 2010, 385; FamRZ 2015, 2180.
[883] EGMR FamRZ 2014, 1977 [Buchs/Schweiz] zum vergleichbaren schweizer Recht.
[886] BVerfG FamRZ 1986, 769.
[887] BVerfG FamRZ 2008, 845; Anm. Völker, FamRB 2008, 174; Anm. Clausius, jurisPR-FamR 14/2008 Anm. 1; Zempel, AnwZert FamRZ 9/2008 Anm. 3; grundrechtsdogmatisch etwas andere Herleitung in BVerfG FamRZ 2013, 521; dazu Britz, Das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung – jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2014, 1069; allerdings jeweils ohne ausdrückliche Auseinandersetzung mit der erstgenannten BVerfG-Entscheidung; kritisch zu beiden grundrechtlichen Herleitungen Jestaedt, Kindesrecht zwischen Elternverantwortung und Staatsverantwortung – Herausforderungen des Eltern-Kind-Verhältnisses aus verfassungsrechtlicher Perspektive, Brühler Schriften zum Familienrecht, 21. Deutscher Familiengerichtstag, S. 65 ff.
[888] Siehe dazu auch Gartenhof/Schmid/Normann/von Thüngen/Wolf, Auflagen nach § 156 Abs. 1 FamFG im Spannungsfeld der Eltern zwischen Autonomie und Zwang, NZFam 2014, 972; zu den Grenzen von Einvernehmen in Kindschaftssonderfällen siehe Schmid, NZFam 2015, 292; Dostmann/Bauch, Hinwirken auf eine Einigung aus anwaltlicher Sicht – Zwang oder Segen?, NZFam 2015, 820; Wegener, Pflicht des Richters zur Hinwirken auf eine Einigung aus richterlicher Sicht nach § 156 FamFG, NZFam 2015, 799; Vogel, Diffamierung des nicht einigungsbereiten Elternteils im Kindschaftsverfahren (?), NZFam 2015, 802.

a) Aufhebung der gemeinsamen Sorge

aa) Fehlende elterliche Kooperationsbereitschaft

 

Rz. 243

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verh...

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