I. Geltung des § 613a BGB in Insolvenzverfahren
Rz. 673
§ 613a BGB gilt nach ganz herrschender Meinung auch in der Insolvenz.[646] Eine andere Rechtsauffassung zur Geltung des § 613a BGB in Insolvenzverfahren deutete zunächst das LAG Hamm an:[647] Nach Art. 4a RL 98/50/EG gelten die Art. 3 und Art. 4 RL 77/187/EWG generell nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle, worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Konkursverwalter verstanden werden kann, ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde, "sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen".
Rz. 674
Damit stellte sich die Frage, ob die Vorschrift des § 613a Abs. 4 BGB bei Betriebsveräußerungen im Insolvenzfall weiterhin gilt oder auf solche Vorgänge nicht (mehr) anwendbar ist. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass § 613a BGB, der – auch wenn dies vor Schaffung des § 324 UmwG nicht vollständig gelungen war – die nationale Umsetzung der alten Betriebsübergangsrichtlinie RL 77/187/EWG darstellt. In § 128 InsO ist die Anwendung des § 613a BGB in der Insolvenz vom Gesetzgeber aber vorausgesetzt und damit anerkannt worden, so dass diese Vorschrift – trotz der Regelung des Art. 4a RL 98/50/EG – auch unter der Geltung der neuen Betriebsübergangsrichtlinie für Betriebsveräußerungen in der Insolvenz fortgilt.
Rz. 675
Allerdings werden die Gerichte für Arbeitssachen die Vorschriften der § 613a BGB, § 128 InsO im Lichte des Art. 4a RL 98/50/EG, der zur Erhaltung verbleibender Arbeitsplätzen geschaffen worden ist, sanierungsfreundlich und damit sanierungsfördernd auslegen müssen.
Rz. 676
Ein bevorstehender Betriebsübergang kann daher nur dann zur Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 613a Abs. 4 BGB führen, wenn die den Betriebsübergang ausmachenden Tatsachen im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits feststehen oder zumindest "greifbare" Formen angenommen haben.[648] Deshalb spricht bei alsbaldiger Wiedereröffnung des Betriebs durch einen Erwerber eine tatsächliche Vermutung gegen die ernsthafte Absicht des Veräußerers, den Betrieb endgültig stillzulegen.
Rz. 677
Hinweis
In Anbetracht der gesetzlichen Höchstkündigungsfrist in der Insolvenz von drei Monaten zum Monatsende (§ 113 Abs. 1 S. 2 InsO) kann von einer "alsbaldigen" Wiedereröffnung, die auf einen Betriebsübergang rückschließen ließe, keine Rede sein, wenn ein (zunächst einmal) geschlossener Betrieb erst drei Monate nach Ablauf dieser Höchstfrist wieder eröffnet wird.
Rz. 678
Hinweis
Die Regelungen des § 613a BGB gelten auch bei Betriebs- oder Teilbetriebsübergängen im Konzern.[649]
II. Abgrenzungsfragen: Betriebsveräußerung, Betriebsstilllegung, Betriebsänderung
1. Betriebsbegriff
Rz. 679
Als "Betrieb" im Sinne der arbeitsrechtlichen Definition bezeichnet man die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Unternehmer allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe von sachlichen oder immateriellen Mitteln arbeitstechnische Zwecke verfolgt.[650]
Rz. 680
Wie Hümmerich zutreffend ausgeführt hat, reicht diese sehr allgemeine Definition nicht für die erschöpfende Beantwortung der sich in der Praxis stellenden Zweifelsfragen aus.[651] Dies zeigt sich bei den – teilweise sehr schwierigen – Abgrenzungen zwischen
▪ | Betriebsübergang (§ 613a BGB), |
▪ | Betriebsänderung (§§ 111 ff. BetrVG), |
▪ | Betriebsverlagerung und |
▪ | Betriebsschließung.[652] |
Rz. 681
Das BAG geht davon aus, dass im Bereich des KSchG der allgemeine kündigungsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich ist.[653] Daher steht auch eine mögliche betriebsverfassungsrechtliche Eigenständigkeit einzelner Betriebsteile einer betriebsteilübergreifenden Sozialauswahl nicht entgegen.[654]
Rz. 682
Betriebsstilllegung und Betriebsveräußerungen schließen sich systematisch aus. Gleiches gilt daher auch für geplante Maßnahmen. An dem erforderlichen endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebes steht. Gleiches gilt, wenn für derartige Verhandlungen noch ein Unternehmensberater engagiert wird und potenzielle Investoren noch durch den Betrieb geführt werden.[655]
Rz. 683
Die Stilllegung des gesamten Betriebes durch den Arbeitgeber gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Von ei...
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