Rz. 426

Nach dem am 1.1.2004 in Kraft getretenen Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt[441] findet die Sozialauswahl weiterhin in drei Stufen statt:

Zunächst ist zu prüfen, welche Arbeitnehmer überhaupt miteinander vergleichbar und somit in die Sozialauswahl einzubeziehen sind.
Dann ist festzustellen, wie deren soziale Schutzbedürftigkeit sich anhand sozialer Kriterien darstellt.
Außerdem wird festgestellt, welche berechtigten betrieblichen Interessen der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl berücksichtigen darf.
 

Rz. 427

Die bei betriebsbedingten Kündigungen auf der zweiten Stufe erforderliche Sozialauswahl wird aber nun beschränkt auf die vier Grundkriterien

Dauer der Betriebszugehörigkeit,
Lebensalter,
Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers,
Schwerbehinderung.
 

Rz. 428

Früher waren im Gesetz die sozialen Gesichtspunkte (Sozialauswahlkriterien) nicht ausdrücklich genannt. Neben den Gesichtspunkten Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung war es deshalb möglich, auch weitere So­zialauswahlkriterien wie Doppelverdienerehe, Berufskrankheiten, unverschuldete Arbeitsunfälle und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt heranzuziehen. Die Neuregelung seit dem 1.1.2004 bedeutet aber – zumindest nach Literaturmeinung – nicht, dass der Arbeitgeber solche Kriterien nicht freiwillig in die Bewertung einbeziehen dürfte.[442]

 

Rz. 429

Im Rahmen der Gewichtung der vier Grunddaten sind bei den Unterhaltsverpflich­tungen

ein etwaiger Doppelverdienst
ein etwaiges Einkommen anderer Familienmitglieder oder
eine Pflegebedürftigkeit eines Familienmitgliedes

nach Literaturmeinung nicht zu Lasten eines anderen Arbeitnehmers zu berücksich­tigen.[443]

 

Rz. 430

Legt man die Gesetzesbegründung zugrunde, ist der Arbeitgeber gehalten, die Sozialdaten der vergleichbaren Arbeitnehmer zu erforschen (Ermittlungspflicht); er kann sich nicht allein auf den Inhalt der Personalakten bzw. der Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte verlassen.[444]

 

Rz. 431

 

Praxistipp

Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, in den Arbeitsvertrag eine Mitteilungsverpflichtung des Arbeitnehmers bezüglich einer etwaigen Änderung seiner Sozialdaten aufzunehmen, also ihm aufzugeben, dem Arbeitgeber stets unaufgefordert etwaige Änderungen dieser Personaldaten unverzüglich mitzuteilen, um ihm ein späteres Berufen auf Nichtberücksichtigung von Sozialdaten bei einer Auswahlentscheidung des Arbeitgebers abzuschneiden (arg. e. § 162 BGB).

 

Rz. 432

Das BAG hat aber – zu einer im Januar 2004 ausgesprochenen Kündigung – anders entschieden: Der Arbeitgeber ist – zumindest im Rahmen der Betriebsratsanhörung – nicht verpflichtet, die Richtigkeit dokumentierter Personaldaten zu überprüfen.[445] Er kann deshalb mangels anderweitiger Kenntnisse auch von den Eintragungen in der Lohnsteuerkarte ausgehen, hat dies aber dann gegenüber dem Betriebsrat zu kennzeichnen.[446] Grundsätzlich sei der Arbeitnehmer für die Unterrichtung des Arbeitgebers über Veränderungen seiner Personalien verantwortlich.[447] Überreicht er lediglich eine Lohnsteuerkarte, ohne den Arbeitgeber über davon abweichende persönliche Daten aufzuklären, müsse er davon ausgehen, dass der Arbeitgeber sich bei seinen Angaben gegenüber dem Betriebsrat auf die dort dokumentierten Daten verlässt.

 

Rz. 433

 

Hinweis

Noch nicht klar ist, inwieweit durch die Neuregelung nunmehr eine Einbeziehung von schwerbehinderten Menschen in die Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer erfolgt ist. Die Aufführung der Schwerbehinderung bei den Sozialauswahlkriterien in § 1 Abs. 3 KSchG erscheint unsinnig, zumindest kontraproduktiv. Sonderkündigungsschutztatbestände, wie insbesondere das Vorliegen einer anerkannten Schwerbehinderung, führen – zumindest nach jahrzehntelangem Verständnis in der arbeitsrechtlichen Praxis – bereits dazu, dass die davon betroffenen Arbeitnehmer schon nicht in die Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer einzubeziehen sind. Wäre mit der Neufassung des Gesetzes etwas anderes gewollt, würde dies bedeuten, dass der Sonderkündigungsschutztatbestand einer anerkannten Schwerbehinderung zu einem bloßen Sozialauswahlkriterium "herabgestuft" worden wäre.

 

Rz. 434

Um der gesetzlichen Neuregelung überhaupt einen praxistauglichen Sinn geben zu ­können, wird vertreten, dass die Einbeziehung schwerbehinderter Arbeitnehmer in die Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer nur dann erfolge, wenn zum Zeitpunkt der Durchführung der Sozialauswahl zur Kündigung bereits eine Zustimmung des Integrationsamtes nach §§ 85 ff. SGB IX (siehe Rdn 614 ff.) vorliege, der Arbeitgeber aber frei sei, den entsprechenden Antrag (vorher) zu stellen.[448]

 

Rz. 435

Diese Auffassung findet eine Stütze in der Rechtsprechung des BAG zum früheren Recht:[449] Der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer ist nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der beabsichtigten Kündigung zu bilden. Arbeitnehmer, denen gegenüber eine ordentliche Kündigung in diesem Zeitpunkt aufgrund von Vorschriften des Sonderkündigungsschutzes ausges...

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