Rz. 617

Der schwerbehinderte Mensch bzw. der gem. § 2 Abs. 3 SGB IX (= § 2 SchwbG a.F.) gleichgestellte behinderte Mensch genießt einen besonderen Kündigungsschutz, indem die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber gem. § 85 SGB IX (= § 15 SchwbG a.F.) der vorherigen Zustimmung des sog. Integrationsamtes (= Hauptfürsor­gestelle a.F.) bedarf.

 

Rz. 618

 

Hinweis

Das gilt allerdings nicht, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Schwerbehinderten zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht länger als sechs Monate (sog. Wartezeit) besteht.

 

Rz. 619

Seit der Neuregelung zum 1.4.2004 beginnt der Sonderkündigungsschutz faktisch nicht mehr schon mit der Antragstellung beim Versorgungsamt/bei Stadt- bzw. Kreisbehörden oder (hinsichtlich eines Gleichstellungsantrags) bei der Agentur für Arbeit, sondern erst dann, wenn dem Arbeitgeber der Sonderkündigungsschutz im Zeitpunkt der Kündigung "nachgewiesen" ist (§ 90 Abs. 2a SGB IX).

 

Rz. 620

 

Hinweis

Dabei sollen an die Art des Nachweises keine zu hohen Anforderungen gestellt werden; insbesondere soll nicht unbedingt die Vorlage des Schwerbehindertenausweises (§ 69 Abs. 5 SGB IX) erforderlich sein.[620]

 

Rz. 621

Der Sonderkündigungsschutz gilt dann für alle schwerbehinderten Menschen und die diesen gleichgestellten Arbeitnehmer. Das bedeutet, dass auch der Insolvenzverwalter vor der beabsichtigten Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen oder einem gleichgestellten Arbeitnehmer die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen hat. Eine Kündigung ohne die Zustimmung des Integrationsamtes ist nichtig (§ 134 BGB).

 

Rz. 622

Die Kündigungsfrist beträgt gem. § 86 SGB IX (= § 16 SchwbG a.F.) mindestens vier Wochen.

 

Rz. 623

Die Frage des Arbeitgebers bzw. Insolvenzverwalters nach der Schwerbehinderung bzw. einem diesbezüglich gestellten Antrag ist im bestehenden Arbeitsverhältnis jedenfalls nach sechs Monaten, d.h. ggf. nach Erwerb des Behindertenschutzes gem. §§ 85 ff. SGB IX, zulässig. Das gilt insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündi­gungen.[621]

[620] Dazu Hümmerich/Spirolke, § 7 Rn 369 ff.; Schaub/Koch, ArbR-HdB, § 179 Rn 2 ff.; Rolfs/Barg, BB 2005, 1678.
[621] BAG v. 16.2.2012 – 6 AZR 553/10, ZIP 2012, 1572; dazu EWiR 2012, 501 (Erfurth).

a) Antragsverfahren

 

Rz. 624

Das Antragsverfahren ist formlos. Der Antrag ist schriftlich und zwar in doppelter Ausfertigung an das für den Sitz des Betriebes oder der Dienststelle zuständige Integrationsamt zu richten.

 

Rz. 625

Der Betriebsrat/Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung werden durch das Integrationsamt an dem Verfahren beteiligt.

 

Rz. 626

Vor einer Entscheidung des Integrationsamtes findet regelmäßig eine Anhörung aller Beteiligten am Sitz des Betriebes oder der Dienststelle durch die örtliche Integrationsstelle (vormals: örtliche Fürsorgestelle) statt.

b) Entscheidung des Integrationsamtes

 

Rz. 627

Das für den Sitz des Beschäftigungsbetriebes zuständige Integrationsamt soll die Entscheidung, falls erforderlich aufgrund mündlicher Verhandlung, innerhalb eines Monats vom Tag des Eingangs des Zustimmungsantrags an treffen (§ 90 Abs. 2a SGB IX).

 

Rz. 628

Im Falle der außerordentlichen Kündigung kann die Zustimmung zur Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden (§ 91 SGB IX; vgl. § 626 Abs. 2 BGB); maßgebend ist der Eingang des Antrags beim Integrationsamt.

 

Rz. 629

Das Integrationsamt hat im Falle der außerordentlichen Kündigung innerhalb von zwei Wochen vom Tage des Eingangs des Antrags an die Entscheidung zu treffen. Ansonsten gilt die Zustimmung als erteilt (Zustimmungsfiktion), § 91 Abs. 3 S. 2 SGB IX.

 

Rz. 630

Im Falle der Zustimmung zur ordentlichen Kündigung kann der Arbeitgeber die Kündigung nur innerhalb eines Monats nach Zustellung erklären, § 88 Abs. 3 SGB IX.

 

Rz. 631

 

Hinweis

Bei einer Versäumung des fristgerechten Kündigungsausspruchs verliert die erteilte Zustimmung ihre Wirkung und muss ggf. erneut eingeholt werden.

Im Falle der außerordentlichen Kündigung kann die Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wird.

 

Rz. 632

 

Hinweis

Dabei ist aber fraglich, ob eine (weitere) Zwei-Wochen-Frist als Fristobergrenze ­angenommen werden kann. § 91 Abs. 5 SGB IX kommt als speziellere Regelung im Verhältnis zu § 626 Abs. 2 BGB nur zum Tragen, wenn dessen zweiwöchige Erklärungsfrist abgelaufen ist. Die ursprüngliche Zwei-Wochen-Frist kann der Arbeitgeber deshalb voll ausschöpfen und muss die Kündigung nicht unverzüglich erklären, wenn die Zustimmung des Integrationsamtes noch vor Ablauf dieser Zwei-Wochen-Frist vorliegt. Insofern verdrängt § 91 Abs. 5 SGB IX nicht § 626 Abs. 2 BGB, sondern ergänzt ihn nur.[622]

 

Rz. 633

Die gem. § 102 BetrVG erforderliche Anhörung des Betriebsrats zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses kann bereits während des Antragsverfahrens bei dem Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung erfolgen. Insbesondere beim Ausspruch einer außeror­dentlichen Kündigung ist dieses wegen der kurzen Fristen sinnvoll.

 

Rz. 634

Bei Hinzutreten neuer Gesichtspunkte im ...

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