Rz. 1090

Unklar ist auch, welche Bedeutung die Vorschrift des § 18 KSchG nach der neuen Rechtsprechung des EuGH zum Entlassungsbegriff überhaupt noch hat. Nach § 18 KSchG werden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam (sog. Entlassungssperre). Die Zustimmung kann auch rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung erteilt werden. Die Agentur für Arbeit kann im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach Eingang der Anzeige wirksam werden.

 

Rz. 1091

Dazu wird vertreten, diese Vorschrift im nationalen Recht habe durch die neue Rechtsprechung des EuGH keinen Regelungsbereich mehr und deshalb ihre Bedeutung verloren.

 

Rz. 1092

Nach anderer Auffassung verschiebt die Frist der Entlassungssperre nach § 18 KSchG demgegenüber sogar die Möglichkeit des Ausspruchs der Kündigungen entsprechend, so dass nach einer einmonatigen Entlassungssperre i.S.v. § 18 Abs. 1 S. 1 KSchG auch die Kündigungen erst zeitversetzt nach Ablauf des Monats ausgesprochen werden dürften.

 

Rz. 1093

Das LAG Berlin-Brandenburg will aus § 18 KSchG eine entsprechend verlängerte Kündigungsfrist ableiten[1085] bzw. es soll nach einer Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG die Kündigungsfrist erst mit Ablauf der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG in Lauf gesetzt werden.[1086]

 

Rz. 1094

Die örtlichen Arbeitsverwaltungen vertreten demgegenüber weitgehend den Standpunkt, dass trotz der Regelung des § 18 KSchG auch nach der neuen Rechtsprechung des EuGH der Arbeitgeber bzw. der Insolvenzverwalter unmittelbar nach Eingang seiner formgerechten und vollständigen Massenentlassungsanzeige die Kündigungen bereits aussprechen könne, diese aber in keinem Fall vor Ablauf der Frist der Entlassungssperre das Arbeitsverhältnis beenden können, so dass auch Arbeitnehmer mit einer Kündigungsfrist, die kürzer als die Sperrfrist nach § 18 KSchG ist, erst mit Ablauf der Sperrfrist ausscheiden können. Das BAG hat dazu inzwischen in diesem Sinne entschieden:

Zitat

"Die Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG hindert weder den Ausspruch einer Kündigung nach Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit während des Laufs der Sperrfrist nach § 18 Abs. 1 oder Abs. 2 KSchG, noch verlängert die Sperrfrist die gesetzlichen Kündigungsfristen."[1087]

 

Rz. 1095

Zuvor wurde empfohlen, der Arbeitgeber bzw. der Insolvenzverwalter könne nach Eingang der ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige bei der örtlichen Agentur für Arbeit zwar durchaus sogleich die einzelnen Kündigungen aussprechen, soweit die sonstigen Voraussetzungen dafür vorliegen (Anhörung des Betriebsrates, Abschluss eines etwaig erforderlichen Interessenausgleichs, Zustimmungen von dritter Seite, wie etwa Integrationsamt), er solle aber – unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung der schon ausgesprochenen Kündigungen zu dem dort vorgesehenen Kündigungsendtermin – dann vorsorglich und hilfsweise nach Ablauf der Sperrfrist des § 18 KSchG noch ein weiteres Mal die Kündigungen aussprechen zu dem sich daraus dann ergebenden späteren Kündigungsendtermin.

 

Rz. 1096

Eine "erneute Anzeige" i.S.v. § 18 Abs. 4 KSchG ist nach der Auffassung des BAG nicht erforderlich, wenn Kündigungen nach einer ersten Anzeige vor Ablauf der Freifrist ausgesprochen werden, die Arbeitsverhältnisse wegen langer Kündigungsfristen aber erst nach Ablauf der Freifrist enden.[1088]

 

Rz. 1097

Bereits nach allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen entfaltet allein die im Verwaltungsakt verbindlich mit Außenwirkung getroffene Regelung Bindungswirkung. Die einem Verwaltungsakt zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände sowie deren rechtliche Beurteilung gehören als Vorfragen dagegen nicht zum Regelungsinhalt. Darüber hinaus wäre das von Art. 6 MERL geforderte Schutzniveau unterschritten, wenn ein Bescheid nach §§ 18, 20 KSchG dem Arbeitnehmer die Möglichkeit abschneiden würde, sich im Kündigungsschutzprozess auf Formfehler bei den Anforderungen des § 17 Abs. 3 KSchG zu berufen. Früheren Entscheidungen des BAG, die eine Heilungswirkung der Bescheide der Arbeitsverwaltung angenommen haben, ist durch die Rechtsprechung des EuGH seit der Junk-Entscheidung vom 27.1.2005[1089] der Boden entzogen.

 

Rz. 1098

Bei der gem. § 17 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG i.V.m. § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 KSchG zwingend erforderlichen Angabe der Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer sind auch die Arbeitnehmer mitzuzählen, die auf Veranlassung des Arbeitgebers im Wege der Eigenkündigung aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und damit einer sonst erforderlichen betriebsbedingten Arbeitgeberkündigung zuvorgekommen sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis davon hat, dass diese Arbeitnehmer bereits ein neues Arbeitsverhältnis begründet haben.[1090]

 

Rz. 1099

Wird in einer Massenentlassungsanzeige die Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer zu niedrig angegeben, können sich auf diesen Fehler nur die A...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge