Rz. 252

Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers im bestehenden – auch ggf. bereits gekündigten – Arbeitsverhältnis wird aus den §§ 611613 i.V.m. § 242 BGB hergeleitet. Er beruht auf der arbeitsvertraglichen Förderungspflicht des Arbeitgebers im Hinblick auf das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der ­verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 1 und 2 GG zum Persönlichkeitsschutz. Eine einseitige Suspendierung des Arbeitnehmers ohne vertragliche Vereinbarung ist grundsätzlich nicht zulässig.[268] Der Beschäftigungsanspruch muss nur dann zurücktreten, wenn überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen.[269] Der Arbeitnehmer kann daher – zumindest außerhalb der Insolvenz – seinen Beschäftigungsanspruch ggf. durch eine einstweilige Verfügung durchsetzen.[270]

 

Rz. 253

Das LAG Hessen verneint aber auch in der Insolvenz ein Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters aus insolvenzspezifischen Gründen. Der Insolvenzverwalter ist jedoch berechtigt, zur Sicherung des Urlaubsanspruchs eines Arbeitnehmers nach erfolgter Kündigung diesen Urlaub zu erteilen, aber auch verpflichtet, dass Urlaubsentgelt zu zahlen. Auch dabei ist ein insolvenzspezifische Freistellungsrecht des Insolvenzverwalter ohne die Verpflichtung zur Zahlung von Urlaubsentgelt nicht anzuerkennen.[271]

 

Rz. 254

Oft werden Arbeitnehmer im Zusammenhang mit einer Kündigung von der Arbeitsleistung freigestellt. Dies geschieht i.d.R. unwiderruflich im Hinblick auf die dazu ergangene Rechtsprechung des BAG, wonach nur die unwiderrufliche Freistellung die etwaigen Resturlaubsansprüche des freigestellten Arbeitnehmers erfüllt.

 

Rz. 255

Nach Auffassung des ArbG Berlin soll aber zumindest eine Freistellungsklausel in einem vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsvertragsformular wegen unangemessener Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam sein können.[272]

 

Rz. 256

Das BAG unterscheidet zwischen

einseitigen Freistellungsanordnungen durch den Insolvenzverwalter und
einvernehmlich vereinbarten Freistellungen.
 

Rz. 257

Die Freistellungsvereinbarung wertet das BAG als Erlassvertrag i.S.v. § 397 BGB (hinsichtlich der Leistungspflicht des Arbeitnehmers) und nimmt einen Vergütungsanspruch nach § 611 BGB an.

Im Falle einseitiger Freistellung folgert es den Vergütungsanspruch aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges.[273]

 

Rz. 258

In beiden Fallgestaltungen entstehen so Masseverbindlichkeiten. Entscheidend ist jedoch regelmäßig, ob es sich um sog. Altmasseverbindlichkeiten oder um sog. Neumasseverbindlichkeiten handelt (siehe Rdn 267 ff.).

 

Rz. 259

Eine fragwürdige Rechtsauffassung vertritt insoweit das LAG Berlin-Brandenburg: Die typische Erklärung im Kündigungsschreiben "Sie werden ab sofort unter Fortzahlung der vertragsgemäßen Vergütung und unter Anrechnung bestehender Urlaubsansprüche bis zum Ablauf der Kündigungsfrist von der Erbringung der Arbeitsleistung unwiderruflich freigestellt." stelle ein Angebot zum Abschluss eines Erlassvertrags i.S.v. § 397 BGB dar.[274]

 

Rz. 260

Die Durchführung einer Betriebsänderung in Form einer Stilllegung des Betriebs kann auch mit einer unwiderruflichen Freistellung sämtlicher Arbeitnehmer beginnen und somit mangels vorherigen Abschlusses eines Interessenausgleichs zu Nachteilsausgleichsansprüchen gem. § 113 Abs. 3 BetrVG führen.[275]

 

Rz. 261

Bei der sog. "insolvenzrechtlichen Freistellung" von Arbeitnehmern durch den Insolvenzverwalter nach Erklärung der Masseunzulänglichkeit handelt es sich nach der Auffassung des LAG Nürnberg nicht um eine Willenserklärung oder eine geschäftliche Handlung, sondern lediglich um die Mitteilung, dass die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht in Anspruch genommen werden solle. Eine Zurückweisung dieser Mitteilung nach § 174 BGB wegen fehlender Vollmachtvorlage geht daher ins Leere.[276]

 

Rz. 262

Zu einem Nachforderungsbescheid des Rentenversicherungsträgers wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge für freigestellte Arbeitnehmer auch noch nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat das BSG entschieden:[277]

Die Rentenversicherungsträger sind berechtigt, den Insolvenzverwalter wegen rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die in der Insolvenz des Arbeitgebers gekündigten und freigestellten Arbeitnehmer auch noch nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch Erlass eines Nachforderungsbescheids in Anspruch zu nehmen. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber nach § 335 Abs. 3 S. 2 SGB III – also wegen Bezugs von Insolvenzgeld – von der Verpflichtung zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit ist.

[270] LAG Nürnberg v. 15.9.2015 – 7 SaGa 4/15, AE 2016, 12; a.A. LAG Nürnberg v. 18.9.2007 – 4 Sa 586/07.
[271] LAG Hessen v. 10.4.2017 – 7 Sa 650/17, NZI 2017, 902.
[273] BAG v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, NZA 2007, 36; dazu Bayreuther, ZIP 2008, 573.
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