Entscheidungsstichwort (Thema)

Mehrarbeit für Schwerbehinderte

 

Leitsatz (amtlich)

Unter Mehrarbeit im Sinne des § 46 SchwbG ist nicht die über die individuelle Arbeitszeit des Schwerbehinderten hinausgehende tägliche Arbeitszeit zu verstehen, sondern die die werktägliche Dauer von 8 Stunden (§ 3 AZO) überschreitende Arbeitszeit.

 

Normenkette

SchwbG i.d.F. vom 26. August 1986 (BGBl. I S. 1421) § 46; AZO § 3; Bundesmanteltarifvertrag (BMS) für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden der Sägeindustrie und der übrigen Holzbearbeitung vom 13. März 1986, Nrn. 15a, 16a, 28

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 01.07.1988; Aktenzeichen 9 Sa 2354/87)

ArbG Detmold (Urteil vom 29.10.1987; Aktenzeichen 3 Ca 702/87)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 1. Juli 1988 – 9 Sa 2354/87 – aufgehoben.
  • Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Detmold vom 29. Oktober 1987 – 3 Ca 702/87 – abgeändert.

    Die Anschlußberufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts wird zurückgewiesen.

  • Die Klage wird abgewiesen.
  • Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Freistellung von Mehrarbeit in Anspruch.

Der am 18. Januar 1949 geborene Kläger ist Schwerbehinderter im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl. I S. 1421) – SchwbG –). Er ist bei der Beklagten, einem Unternehmen der Holzindustrie mit rund 240 Arbeitnehmern, als Holzwerker beschäftigt. 13 oder 14 der Arbeitnehmer sind Schwerbehinderte. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Parteien der Bundesmanteltarifvertrag (BMS) für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden der Sägeindustrie und der übrigen Holzbearbeitung vom 13. März 1986. Dieser bestimmt unter anderem:

“… Arbeitszeit

Allgemeine Arbeitszeitbestimmungen

    • Die regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen darf 40 Stunden wöchentlich nicht überschreiten.

      Ab 1. März 1987 wird die regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen auf 38,5 Stunden wöchentlich bei vollem Lohnausgleich verkürzt.

    • Die regelmäßige Arbeitszeit ist grundsätzlich auf alle Arbeitstage der Woche mit der Maßgabe zu verteilen, daß von montags bis freitags nicht länger als acht Stunden pro Tag gearbeitet werden darf.

      Entfallen auf eine Woche 36 oder weniger Stunden, so ist mit Zustimmung des Betriebsrats für einzelne Betriebsabteilungen oder den ganzen Betrieb eine Verteilung auf vier Tage ohne Mehrarbeitszuschläge zulässig. Gesetzliche bezahlte Feiertage und Urlaubstage werden bei der Berechnung der Wochenarbeitszeit mit 7,7 Stunden mitgezählt.

    • Von der Regelung unter a) kann abgewichen werden, wenn die besonderen Verhältnisse des Betriebes eine ungleichmäßige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit in der Woche oder Doppelwoche erfordern oder wenn an Sonnabenden regelmäßig gearbeitet werden soll. Über abgeschlossene Betriebsvereinbarungen sind die Tarifvertragsparteien zu unterrichten.
  • Mehrarbeit ist die über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit. Keine Mehrarbeit liegt vor, wenn in Einzelfällen im Einvernehmen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer der entsprechende zeitliche Ausgleich innerhalb der wöchentlichen Arbeitszeit erfolgt.

Der Kläger hat geltend gemacht, unter Mehrarbeit im Sinne des § 46 SchwbG sei die Arbeit zu verstehen, welche die für das jeweilige Beschäftigungsverhältnis maßgebliche tarifvertraglich festgelegte, regelmäßige Arbeitszeit überschreitet. Mehrarbeit für sein Arbeitsverhältnis sei gemäß Nr. 28 BMS die über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit. Im Sinne dieser Vorschrift habe er in der Zeit vom 13. März bis zum 12. Juni 1987 insgesamt 30 Stunden Mehrarbeit geleistet. Seinen Antrag, ihn von Mehrarbeit freizustellen, habe die Beklagte abgelehnt. Das hält der Kläger nicht für gerechtfertigt und hat beantragt

festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihn von der Mehrarbeit freizustellen, die die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden übersteigt.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 46 SchwbG beziehe sich auf Mehrarbeit im Sinne der Arbeitszeitordnung. Nur dort sei der Begriff “Mehrarbeit” gesetzlich definiert.

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet sei, den Kläger von der Mehrarbeit freizustellen, die die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden übersteigt. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt, der sich der Kläger mit dem Antrag angeschlossen hat, die Beklagte zu verurteilen, ihn von der über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus zu leistenden Arbeit freizustellen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Anschlußberufung des Klägers die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß diese verpflichtet sei, den Kläger von der über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus zu leistenden Arbeit freizustellen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit, die über die für ihn maßgebliche regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgeht. Der Begriff der Mehrarbeit im Sinne des § 46 SchwbG stelle auf die regelmäßige individuelle Arbeitszeit des Schwerbehinderten ab, die sich aus dem Zusammenspiel von Einzelarbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsüblichkeit und Gesetz ergebe. Unter Mehrarbeit im Sinne des § 46 SchwbG sei daher die Arbeit zu verstehen, die der Schwerbehinderte über seine regelmäßige Arbeitszeit hinaus zu leisten habe.

Dem kann nicht gefolgt werden.

II.1. Nach § 46 SchwbG sind Schwerbehinderte auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freizustellen. Was unter dem Begriff der Mehrarbeit im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen sei, bestimmt das Gesetz nicht. Die in der Vorschrift enthaltene Regelung wurde als § 43 SchwbG 1979 erstmals in das Gesetz eingeführt und hatte offenbar als Vorbild den inhaltlich vergleichbaren § 4 der Freizeitanordnung des Reichsarbeitsministers vom 22. Oktober 1943 (RArbBl. I S. 508). Der Umfang der gesetzlich erlaubten Arbeitszeit ergibt sich im wesentlichen aus der noch fortgeltenden Arbeitszeitordnung (AZO) vom 30. April 1938 (RGBl. I S. 447). Wenn auch die tarifliche Praxis und die von ihr beeinflußte Praxis des Arbeitslebens schon seit langem von anderen Arbeitszeitregelungen ausgehen, gilt als gesetzliche Regelung, von besonderen Ausnahmer aus Gründen des Arbeitsschutzes (z. B. §§ 8 ff. JArbSchG, § 15a StVZO) abgesehen, immer noch, daß die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten darf (§ 3 AZO, Grundsatz des Achtstundentages).

Danach ist Mehrarbeit diejenige Arbeit, die über die normale gesetzliche Arbeitszeit hinausgeht. Dagegen wird unter Überarbeit (Überstunden, Überschichten) die Arbeit verstanden, die über die für das jeweilige Beschäftigungsverhältnis aufgrund Tarifvertrages, Betriebsvereinbarung oder Einzelvertrages festgelegte Arbeitszeit hinausgeht (vgl. Gröninger/Thomas, Schwerbehindertengesetz, Stand Januar 1989, Erl. zu § 46; Jung/Cramer, Schwerbehindertengesetz, 3. Aufl., § 46 Rz 1, 2; Weber, Schwerbehindertengesetz, Stand Februar 1989, § 46 Anm. 1; Wiegand, Kommentar zum Schwerbehindertengesetz, Stand Juni 1988, § 43 Rz 2; Neubert/Becke, Schwerbehindertengesetz, 2. Aufl., § 46 Rz 4; Thieler, Das Schwerbehindertengesetz, § 46 Rz 3; a. A. Neumann in Wilrodt/Gotzen/Neumann, Schwerbehindertengesetz, 7. Aufl., § 46 Rz 3; Rewolle/Dörner, Schwerbehindertengesetz, Stand 1. Juli 1989, § 46, zu III).

Die in den letzten Jahren allgemein eingeführten Arbeitszeitverkürzungen beruhten weniger auf dem Gedanken, daß die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als acht Stunden überfordert sei, als vielmehr auf dem sozialpolitischen Postulat nach mehr Freizeit, um die Möglichkeiten des Arbeitnehmers zur Gestaltung seines Privatlebens außerhalb der Arbeitszeit zu verbessern (vgl. nur Weber, aaO). So geht der Entwurf der Bundesregierung für ein neues Arbeitszeitgesetz in seinem § 1 weiterhin davon aus, daß die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten darf. In der Begründung zu § 1 wird ausgeführt, daß der Grundsatz des Acht-Stunden-Tages beibehalten wird, weil die bisherige Regelung der täglichen Höchstarbeitszeit zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer nach bisherigen arbeitswissenschaftlichen und arbeitsmedizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen im Regelfall ausreicht (BT-Drucks. 11/360, S. 5, 17). Ähnlich legt auch der Gesetzentwurf der Fraktion der SPD vom 8. Januar 1988 die Regelung des Acht-Stunden-Tages zugrunde: in § 3 des Entwurfs, der nach seiner Überschrift die regelmäßige tägliche und wöchentliche Arbeitszeit festlegt, wird klargestellt, daß die regelmäßige tägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten darf (BT-Drucks. 11/1617, S. 1, 3).

2. § 46 SchwbG will nach seinem Sinn und Zweck sicherstellen, daß die Leistungsfähigkeit Schwerbehinderter nicht über Gebühr beansprucht wird (Ausschußbericht BT-Drucks. 7/1515 zu Nr. 41a S. 15, 16). Dieser besondere Gesichtspunkt des Arbeitsschutzes beruht auf der von medizinischen Erkenntnissen beeinflußten Vorstellung, daß eine Arbeitszeit von täglich acht Stunden das Höchstmaß darstellt, welches für Gesundheit und Wohlbefinden des in abhängiger Arbeit Beschäftigten noch tragbar ist (vgl. Gröninger/Thomas, aaO; ferner Weber, aaO). § 46 SchwbG bedeutet kein Verbot von Mehrarbeit. Andererseits ist durch diese Bestimmung das Recht des Schwerbehinderten klargestellt, an Tagen, an denen er länger als acht Stunden arbeiten soll, von dieser Mehrarbeits pflicht freigestellt zu werden (vgl. Gröninger/Thomas, aaO; Jung/Cramer, aaO, Rz 3; Wiegand, aaO, Rz 2).

3. Wollte man mit dem Landesarbeitsgericht unter Mehrarbeit jede über die regelmäßige individuelle Arbeitszeit des Schwerbehinderten hinausgehende Arbeitszeit verstehen, so hätte dies für die einzelnen Schwerbehinderten die unterschiedlichsten Folgen. Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit ist von Betrieb zu Betrieb verschieden und kann außerdem in den einzelnen Betrieben von Tag zu Tag anders sein. Das alles hängt ab von den unterschiedlichsten Regelungen. Diese können daher keinen allgemeingültigen Maßstab für den Begriff der Mehrarbeit liefern. Um aus Gründen der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit eine einheitliche Regelung zu gewinnen, muß es daher – bis zu einer anderweitigen gesetzlichen Regelung – für die Definition der Mehrarbeit bei der Regelung des § 3 AZO verbleiben.

4. Ob durch Tarifvertrag von der gesetzlichen Regelung des § 46 SchwbG und des § 3 AZO abgewichen werden kann, braucht vorliegend nicht erörtert zu werden, weil der für das Arbeitsverhältnis der Parteien maßgebliche Tarifvertrag selbst keine solche Regelung enthält. Nr. 15a BMS spricht von der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit; Nr. 16a verlangt, daß die regelmäßige Arbeitszeit grundsätzlich auf alle Arbeitstage der Woche mit der Maßgabe zu verteilen ist, daß von montags bis freitags nicht länger als acht Stunden pro Tag gearbeitet werden darf. Nr. 28 Satz 1 BMS definiert zwar die über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit als Mehrarbeit, bestimmt aber auch seinerseits weder allgemein noch für die Schwerbehinderten im besonderen, was unter regelmäßiger täglicher Arbeitszeit zu verstehen sei. Zudem ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang der Regelung, daß hier in erster Linie eine Verbindung zu Nr. 37 BMS, die die Zuschläge festlegt, hergestellt ist.

 

Unterschriften

Dr. Gehring, Dr. Olderog, Bitter, Arntzen, Kessel

 

Fundstellen

Haufe-Index 873913

BAGE, 221

BB 1990, 560

RdA 1990, 126

PP 2001, 32

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