Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteil ohne Gründe; nachträgliche Zustellung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren beginnt mit Ablauf der Fünf-Monatsfrist der §§ 516, 552 ZPO nicht die Berufungs- bzw. Revisionsfrist, sondern wegen Fehlens der vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG(Bestätigung von BAGE 85, 208).

2. Wird innerhalb von 16 Monaten nach Verkündung das Urteil mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung zugestellt, so läuft ab Zustellung die Berufungs- bzw. Revisionsfrist.

3. Bei einer späteren Zustellung des Urteils bleibt es bei der Frist von 17 Monaten nach §§ 516, 552 ZPO; § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG(im Anschluß an BAG 23. November 1994 – 4 AZR 743/93 – AP ArbGG 1979 § 9 Nr. 12 = EzA ArbGG 1979 § 9 Nr. 9).

 

Normenkette

ArbGG § 9 Abs. 5 S. 4; ZPO §§ 516, 551 Nr. 7

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 07.07.1999; Aktenzeichen 13 Sa 498/99)

ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 23.04.1998; Aktenzeichen 13 Ca 7050/98)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 7. Juli 1999 – 13 Sa 498/99 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger war bei der beklagten Demokratischen Volksrepublik Algerien auf der Grundlage eines schriftlichen Anstellungsvertrages vom 4. Januar 1993, abgefaßt in französischer Sprache, bei deren Generalkonsulat Frankfurt beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit einem auf den 24. September 1996 datierten Schreiben mit der Begründung, der Kläger habe massiv Stimmung gegen den Umzug des Generalkonsulats von Frankfurt nach Berlin gemacht und damit das Vertrauensverhältnis der Parteien gestört.

Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam und hat mit seiner Klage die Feststellung beantragt, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 24. September 1996 nicht aufgelöst worden ist. Nachdem im Termin vom 3. Juli 1997 gegen die trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienene Beklagte antragsgemäß ein Versäumnisurteil ergangen ist, legte die Beklagte gegen dieses Versäumnisurteil Einspruch ein.

Der Kläger hat nunmehr beantragt

den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 3. Juli 1997 zurückzuweisen und das Versäumnisurteil aufrecht zu erhalten.

Die Beklagte hat ihren Antrag auf Aufhebung des Versäumnisurteils und Klageabweisung vor allem damit begründet, nach einer im Arbeitsvertrag niedergelegten Gerichtsstandsvereinbarung seien die algerischen Gerichte ausschließlich zuständig zur Entscheidung über Streitigkeiten und Prozesse, die sich aus dem geltenden Vertrag ergäben.

Mit Urteil vom 23. April 1998 hat das Arbeitsgericht das Versäumnisurteil vom 3. Juli 1997 aufgehoben und die Klage als unzulässig abgewiesen. Das in vollständiger Form erst nach Ablauf von fünf Monaten seit Verkündung abgefaßte Urteil wurde dem Klägervertreter am 1. Dezember 1998 mit entsprechender Rechtsmittelbelehrung zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 17. März 1999, eingegangen beim Landesarbeitsgericht am 17. März 1999, hat der Kläger Berufung gegen das arbeitsgerichtliche Urteil eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 19. April 1999, eingegangen am 19. April 1999, begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Aufrechterhaltung des Versäumnisurteils weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zu Recht wegen Versäumung der Berufungsfrist nach § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, § 516 ZPO als unzulässig verworfen.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Berufungsfrist habe mit Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen Urteils, also am 1. Dezember 1998 begonnen. Zwar habe der Kläger, solange das erstinstanzliche Urteil noch nicht zugestellt gewesen sei, davon ausgehen können, daß nach § 516 ZPO, § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG eine Frist für die Berufungseinlegung bis spätestens 17 Monate nach Verkündung des arbeitsgerichtlichen Urteils bestanden habe. Wenn aber ein Urteil mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung zugestellt werde, beginne damit jedenfalls die einmonatige Berufungsfrist nach § 66 Abs. 1 ArbGG, § 516 1. Altern. ZPO.

II. Dem folgt der Senat im Ergebnis und weitgehend auch in der Begründung.

1. Zutreffend geht die Revision mit dem angefochtenen Urteil davon aus, daß vor Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nach § 66 Abs. 1 ArbGG, § 516 ZPO, § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG eine Frist von 17 Monaten zur Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils lief. Nach § 516 ZPO beginnt die einmonatige Berufungsfrist spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des Urteils, wenn zu diesem Zeitpunkt die Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten Urteils noch nicht erfolgt ist. Da es jedoch vor Urteilszustellung auch an einer Rechtsmittelbelehrung fehlt, beginnt im arbeitsgerichtlichen Verfahren mit Ablauf der Fünf-Monats-Frist des § 516 ZPO noch nicht die Berufungsfrist, sondern wegen Fehlens der vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung zunächst die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG(BAG 23. November 1994 – 4 AZR 743/93 – AP ArbGG 1979 § 9 Nr. 12 = EzA ArbGG 1979 § 9 Nr. 9; 5. März 1997 – 4 AZR 532/95 – BAGE 85, 208, 216). Die Höchstfrist beträgt damit 17 Monate.

2. Zu Unrecht meint die Revision jedoch, der Partei stehe stets die volle 17-Monats-Frist zur Berufungseinlegung zur Verfügung, auch wenn binnen fünf Monaten nach Urteilsverkündung das vollständig abgefaßte Urteil noch nicht vorliege, dieses jedoch mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung während des Laufs der Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG zugestellt werde. Nach § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel nur dann nicht, wenn die Partei keine den Vorschriften entsprechende Rechtsmittelbelehrung erhalten hat. Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß mit der ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung die normale Rechtsmittelfrist beginnt. Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift; sobald der Partei eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung erteilt ist, weiß sie, wie sie gegen die anzufechtende Entscheidung gerichtlich vorzugehen hat. § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG legt nur im Interesse der Rechtssicherheit die Frist von einem Jahr seit Zustellung als Höchstfrist fest, innerhalb derer selbst bei unterbliebener oder unrichtig erteilter Rechtsmittelbelehrung die Einlegung des Rechtsmittels erfolgen muß. Diese Frist endet jedenfalls dann, wenn die anzufechtende Entscheidung mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung zugestellt ist, denn dann beginnt nach § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG die normale Rechtsmittelfrist. Wird das Urteil allerdings erst nach Ablauf von 16 Monaten seit Verkündung zugestellt, bleibt es bei der Rechtsmittelfrist von 17 Monaten seit Urteilsverkündung(BAG 23. November 1994 – 4 AZR 743/93 – aaO). Für den Fall einer unrichtig erteilten Rechtsmittelbelehrung entspricht es allgemeiner Meinung, daß die Rechtsmittelbelehrung später berichtigt werden kann und jedenfalls die Zustellung der Entscheidung mit der berichtigten Rechtsmittelbelehrung den Lauf der Rechtsmittelfrist, zB der einmonatigen Berufungsfrist in Lauf setzt(Grunsky ArbGG 7. Aufl. § 9 Rn. 30; Hauck ArbGG § 9 Rz 20; Gift/Baur Das Urteilsverfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen Rz 1598; vgl. BAG 5. August 1996 – 5 AZB 15/96 – BAGE 84, 7). Auch in den übrigen Prozeßordnungen, die eine § 9 Abs. 5 ArbGG vergleichbare Regelung enthalten, ist anerkannt, daß die Berichtigung einer falschen Rechtsmittelbelehrung möglich ist und nach Zustellung der berichtigten Entscheidung nicht etwa die § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG vergleichbare Höchstfrist weiterläuft(Eyermann/Fröhler-Schmidt VwGO 10. Aufl. § 58 Rn. 16; Kopp VwGO 10. Aufl. § 58 Rn. 8; Redeker/von Oertzen VwGO 12. Aufl. § 58 Rn. 16; Peters/Sautter/Wolff SGG 4. Aufl. § 66 Anm. 3; Meyer-Ladewig SGG 6. Aufl. § 66 Rn. 12 d; Hennig/Danckwerts SGG Stand Juli 1999 § 66 Rn. 2). Für den zweiten in § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG geregelten Fall, das zunächst völlige Unterbleiben einer Rechtsmittelbelehrung, kann nach Wortlaut, Sinn und Zweck und Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung nichts anderes gelten. Wird bei völligem Unterbleiben einer Rechtsmittelbelehrung nachträglich eine Entscheidung mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung zugestellt, so bedarf die Partei nicht mehr des Schutzes durch § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG; nichts hindert sie, entsprechend der Rechtsmittelbelehrung vorzugehen und innerhalb der Frist, über die sie ordnungsgemäß belehrt worden ist, das Rechtsmittel gegen die anzufechtende Entscheidung einzulegen.

3. Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wie die Revision geltend macht, aus § 551 Nr. 7 ZPO. Zwar trifft es nicht zu, wovon das Berufungsgericht offenbar ausgeht, daß die Rechtsprechung zu den Folgen einer verspäteten Urteilsbegründung (§ 551 Nr. 7 ZPO) nur im Verhältnis zwischen Revisionsgericht und Berufungsgericht und nicht auch im Verhältnis zwischen Berufungsgericht und erstinstanzlichem Gericht gilt. Nach § 60 Abs. 4 Satz 3 ArbGG ist das erstinstanzliche Urteil vor Ablauf von drei Wochen, vom Tage der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übergeben. Die Beurkundungsfunktion ist wegen des „abnehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens” spätestens nach Ablauf der Fünf-Monats-Frist des § 516 ZPO nicht mehr gewahrt(Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – BVerwGE 92, 367). Das gilt auch für erstinstanzliche Urteile(BAG 13. September 1995 – 2 AZR 855/94 – AP ArbGG 1979 § 66 Nr. 12 = EzA ArbGG 1979 § 66 Nr. 22).

Im Ergebnis ist dem Berufungsgericht jedoch darin zu folgen, daß eine Nachholung der Rechtsmittelbelehrung mit den oben dargelegten Auswirkungen auf den Fristablauf auch dann zulässig ist, wenn das anzufechtende Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten vollständig abgefaßt und unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt und deshalb als ein Urteil ohne Gründe anzusehen ist. Das Berufungsgericht stellt in einer Hilfsbegründung zutreffend darauf ab, daß der Mangel der verspäteten Urteilsabsetzung nach § 551 Nr. 7 ZPO nicht von Amts wegen, sondern nur auf entsprechende Rüge hin zu berücksichtigen ist. Eine Rüge des Rechtsmittelführers nach § 551 Nr. 7 ZPO setzt aber jedenfalls die Zulässigkeit des Rechtsmittels voraus. Steht fest, daß eine Rüge nach § 551 Nr. 7 ZPO nicht erhoben werden kann, weil zB die erforderliche Rechtsmittelzulassung fehlt oder ein zulässiges Rechtsmittel nicht eingelegt ist, dann geht die trotzdem erhobene Rüge nach § 551 Nr. 7 ZPO ins Leere. Schon deshalb läßt sich aus der verspäteten Urteilsabsetzung und -zustellung nicht folgern, daß trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nach § 551 Nr. 7 ZPO, § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG die dort festgelegte Jahresfrist weiter läuft.

Abgesehen davon ist auch aufgrund der Rechtsprechung zu den Folgen einer verspäteten Urteilsabsetzung nach § 551 Nr. 7 ZPO nicht davon auszugehen, daß ein nach Ablauf der Frist des § 516 2. Altern. ZPO zugestelltes Urteil nicht nur als Urteil ohne Gründe, sondern auch als Urteil ohne Rechtsmittelbelehrung anzusehen ist. Der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes(27. April 1993 aaO) unterscheidet deutlich zwischen dem in § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG und den entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen geregelten Fall der fehlenden oder unrichtigen Rechtsmittelbelehrung und der verspäteten Urteilsabsetzung bzw. -zustellung; der Fall, daß ein vollständig abgefaßtes Urteil den Parteien ohne Rechtsmittelbelehrung oder mit unrichtiger Rechtsmittelbelehrung zugestellt werde, lasse sich nicht mit dem Fall des Fehlens von Tatbestand und Entscheidungsgründen gleichsetzen; insbesondere im Hinblick auf das ausreichende Erinnerungsvermögen der beteiligten Richter gebe die Zustellung ohne oder mit unrichtiger Rechtsmittelbelehrung nichts her. Diese Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Sachverhalt zu. Wenn auch bei Tatbestand und Entscheidungsgründen anzunehmen ist, daß das nachlassende Erinnerungsvermögen regelmäßig zu Einbußen bei der verspäteten Urteilsabsetzung führt, muß es dem Richter stets auch nach längerer Zeit möglich sein, ein solches Urteil mit der normalerweise nach Formblatt zu erteilenden zutreffenden Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Entspricht diese Rechtsmittelbelehrung der gesetzlichen Form, so muß die Partei innerhalb der dann laufenden Rechtsmittelfrist (etwa nach § 516 ZPO), über die sie ordnungsgemäß belehrt worden ist, gegen das verspätet zugestellte Urteil vorgehen und kann sich dann überlegen, ob sie die Rüge nach § 551 Nr. 7 ZPO erhebt oder nicht.

4. Vertrauensschutzgesichtspunkte spielen demgegenüber keine Rolle. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, verdient die Partei, die ordnungsgemäß über den Lauf der Rechtsmittelfrist belehrt worden ist und es trotzdem ohne einen Grund, der eine Wiedereinsetzung rechtfertigen würde, versäumt, rechtzeitig das Rechtsmittel einzulegen, keinen Schutz.

 

Unterschriften

Etzel, Bröhl, Fischermeier, Piper, Fischer

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 08.06.2000 durch Freitag, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

BAGE, 73

BB 2000, 1998

DB 2000, 2176

FA 2000, 352

NZA 2001, 343

ZIP 2000, 1842

AP, 0

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