Rz. 44

Besonderheiten für die Ausübung der Mitbestimmungsrechte bestehen, wenn der Betrieb vom Arbeitskampf erfasst wird. Der Grundsatz lautet allerdings, dass die Mitbestimmungsrechte auch im Arbeitskampf gelten, egal ob die Mitglieder des Betriebsrats mitstreiken oder ausgesperrt sind (BAG, Beschluss v. 26.1.1988, 1 ABR 34/86[1]; BAG, Beschluss v. 16.12.1986, 1 ABR 35/85). Allerdings darf durch die Ausübung der Mitbestimmung nicht in die laufende Konfrontation eingegriffen werden. Das BAG prüft,

  • ob die Ausübung des Mitbestimmungsrechts den Betriebsrat in der Arbeitskampfsituation überfordern würde (BAG, Beschluss v. 24.4.1979, 1 ABR 43/77[2]; BAG, Urteil v. 14.2.1978, 1 AZR 76/76[3] zur Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten),
  • ob durch die Beteiligung des Betriebsrats an arbeitskampfbedingten Maßnahmen die Chancengleichheit (BAG, Beschluss v. 24.4.1979, 1 ABR 43/77[4]) oder die Waffengleichheit (BAG, Urteil v. 14.2.1978, 1 AZR 54/76[5]) der Kampfparteien gefährdet oder
  • ob durch die Mitbestimmung die materielle Kampfparität gestört würde.

Kann eine Frage bejaht werden, tritt das Mitbestimmungsrecht zurück. Dementsprechend sollte es regelmäßig dann entfallen, wenn Maßnahmen des Arbeitgebers unmittelbar auf das Kampfgeschehen bezogen sind.[6]

 
Praxis-Beispiel

Der Betriebsrat hat nicht mitzubestimmen, wenn der bestreikte Arbeitgeber seinen Betrieb dadurch aufrechterhält, dass er die betriebsübliche Arbeitszeit der arbeitswilligen Arbeitnehmer vorübergehend verlängert, so im Ergebnis (BAG, Beschluss v. 24.4.1979, 1 ABR 43/77[7] wegen des Eingriffs in die Chancengleichheit).

Die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der vorübergehenden Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist aber nicht aus arbeitskampfrechtlichen Gründen suspendiert, wenn der Arbeitgeber Mehrarbeit gegenüber allen dienstplanmäßig eingeteilten Arbeitnehmern zur Aufarbeitung streikbedingter Arbeitsrückstände nach Beendigung der Arbeitsniederlegung anordnet. Gleiches gilt, wenn mit der Mehrarbeitsanordnung in einer von Warnstreiks begleiteten Verhandlungsphase der Tarifvertragsparteien dem Streikdruck vorgebeugt werden soll und der Arbeitgeber nicht deutlich macht, dass er die Maßnahme auf arbeitswillige, einem gewerkschaftlichen Streikaufruf nicht Folge leistende Arbeitnehmer beschränkt (BAG, Beschluss v. 20.3.2018, 1 ABR 70/16).

 
Praxis-Beispiel

Der Arbeitgeber will in seinem Betrieb Kurzarbeit einführen, weil der Hauptabnehmer seiner Produkte (ein anderes Unternehmen) bestreikt wird (sog. mittelbare Betroffenheit vom Arbeitskampf als Folge einer Fernwirkung).

(Vgl. BAG, Beschluss v. 22.12.1980, 1 ABR 2/79[8]).

Das BAG hat zu dieser äußerst umstrittenen Problematik die sogenannte Arbeitskampf-Risikolehre entwickelt. Abweichend vom allgemeinen Grundsatz, dass allein der Arbeitgeber die Risiken der wirtschaftlichen Betätigung allein zu tragen hat (Betriebs- und Wirtschaftsrisiko), gilt im Arbeitskampf eine Risikoteilung dergestalt, dass der Arbeitgeber den Schaden für den Produktionsausfall, die Arbeitnehmer aber das Beschäftigungs- und Vergütungsrisiko tragen. Beeinflussen die Fernwirkungen eines Streiks das Kräfteverhältnis der kampfführenden Parteien (Kampfparität), so findet diese Risikoteilung ebenfalls Anwendung. Auswirkungen auf die Kampfparität werden aber nur angenommen, wenn die für den mittelbar betroffenen Betrieb zuständigen Arbeitgeberverbände mit den unmittelbar kampfführenden Verbänden identisch oder organisatorisch eng verbunden sind. Gleiches gilt, wenn wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen mittelbar und unmittelbar betroffenem Betrieb feststellbar sind, etwa bei einer Verflechtung im Konzern.

Für die Ausgangsfrage hat das BAG in der oben genannten Entscheidung aus diesen Grundsätzen die folgende Lösung entwickelt: Wenn die Voraussetzungen für die Risikoteilung nach der Arbeitskampfrisikolehre vorliegen, sind diese den Betriebspartnern unverhandelbar vorgegeben. Der Arbeitgeber kann daher das "Ob" der Kurzarbeit frei entscheiden. Nachdem er alleine über den Umfang der Arbeitszeitverkürzung entschieden hat, verbleibt aber ein Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG und § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG hinsichtlich des „Wie”, soweit bezüglich der Modalitäten (z. B. Verteilung der verbleibenden Restarbeitszeit) noch ein Regelungsspielraum verbleibt (BAG, Beschluss v. 22.12.1980, 1 ABR 2/79[9]).

Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind für Arbeitgeber wenig praktikabel, denn er muss eine Reihe von schwierigen Nachweisen führen, insbesondere was die Kausalität zwischen mittelbarer Kampfbetroffenheit und Arbeitsausfall sowie die behauptete Paritätsstörung im Arbeitskampf angeht. Dafür wird ihm allerdings ein gewisser Beurteilungsspielraum zuerkannt.[10] Er ist freilich nicht zu wirtschaftlich unzumutbaren Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Produktion verpflichtet, wie beispielsweise die Anmietung neuer Lagerkapazitäten oder das Knüpfen neuer Lieferbeziehungen unter Beeinträchtigung der Interessen sein...

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