Rz. 61

Noch nicht geklärt ist, ob im Rahmen der Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG Leiharbeitnehmer im Einsatzbetrieb des Entleihers zu berücksichtigen sind. Die mit Wirkung ab dem 1.4.2017 in Kraft getretenen Neuregelungen des § 14 Abs. 2 Sätze 4 bis 6 AÜG[1] beantworten diese Frage für das KSchG nicht. Teilweise – insbesondere auch von der BA – wird dies verneint und ohne nähere Diskussion davon ausgegangen, Leiharbeitnehmer seien allein dem Verleiherbetrieb zuzuordnen.[2]

 

Rz. 62

Allerdings hat das BAG für die Fälle des drittbezogenen Personaleinsatzes die früher vertretene Zwei-Komponenten-Lehre[3] – wonach die Arbeitnehmereigenschaft i. S. d. BetrVG und der Schwellenwertnormen nicht nur die Eingliederung der jeweiligen Person in die Betriebsorganisation des Arbeitgebers, sondern auch das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Betriebs- bzw. Unternehmensinhaber aufgrund eines mit diesem abgeschlossenen Arbeitsvertrags voraussetzt – mittlerweile aufgegeben[4] und zählt Leiharbeitnehmer im Entleiherbetrieb mit, sofern Sinn und Zweck des jeweiligen gesetzlichen Schwellenwerts dies gebieten.[5] Vor diesem Hintergrund wird teilweise vertreten, regelmäßig im Entleiherbetrieb beschäftigte Leiharbeitnehmer im Rahmen des § 17 Abs. 1 KSchG mitzuzählen.[6]

 

Rz. 63

Auch der 1. Senat des BAG scheint dieser Auffassung zuzuneigen: In dem der Entscheidung v. 18.10.2011 zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um die Frage, ob in einem Betrieb mit 20 Arbeitnehmern und einer für längere Zeit eingesetzten Leiharbeitnehmerin die betriebsbedingte Kündigung von insgesamt 11 Arbeitnehmern die Pflicht zur Verhandlung eines Interessenausgleichs und Sozialplans auslöst, welche gem. § 111 Satz 1 BetrVG bei geplanten Betriebsänderungen "in Unternehmen mit i. d. R. mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern" besteht. Das BAG entschied, nach § 7 Satz 2 BetrVG seien wahlberechtigte Leiharbeitnehmer bei der Feststellung der Belegschaftsstärke nach § 111 Satz 1 BetrVG mitzuzählen, wenn sie zu den "in der Regel" Beschäftigten gehörten.[7] Außerdem führte das BAG aus, die betriebsbedingte Kündigung von 11 Arbeitnehmern[8] in einem Betrieb mit 21 Arbeitnehmern stelle eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG dar, weil "die Zahlen- und Prozentangaben in § 17 Abs. 1 KSchG deutlich überschritten" seien[9]. Anders als die 1. Instanz – die explizit davon ausging, der Schutzzweck des § 17 Abs. 1 KSchG erfordere nicht die Einbeziehung von Leiharbeitnehmern bei der Frage, ob es sich um eine anzeigepflichtige Entlassung handelt[10] – hat der 1. Senat des BAG die Leiharbeitnehmerin auch bei der Bestimmung der Betriebsgröße des Entleiherbetriebs i. S. d. Zahlenstaffel des § 17 Abs. 1 KSchG – die bei § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG relevant ist – mitgezählt.

 

Rz. 64

Richtigerweise sind Leiharbeitnehmer jedoch unter Berücksichtigung der ratio legis im Rahmen des § 17 Abs. 1 KSchG sowohl bei der Bestimmung der Betriebsgröße des Entleiherbetriebs als auch bei der Anzahl der geplanten Entlassungen nicht zu berücksichtigen.[11] Dies ergibt sich aus Folgendem: Der Wortlaut der Norm ist indifferent. Er stellt nur auf "Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer" ab. Arbeitnehmer des Arbeitgebers können sowohl die beim Arbeitgeber (Entleiher) angestellten Arbeitnehmer sein als auch die dort eingesetzten Leiharbeitnehmer. Denn Leiharbeitnehmer stehen nach Auffassung des EuGH[12] sowie des BAG[13] in einem "doppelten Arbeitsverhältnis", nämlich einerseits in dem – arbeitsvertraglich geprägten – "Grundverhältnis" mit ihrem Vertragsarbeitgeber, dem Verleiher, und andererseits in dem – an die Erbringung der Arbeitsleistung und die Eingliederung des Arbeitnehmers anknüpfenden – "Erfüllungsverhältnis" mit dem Entleiher.[14] Auch die systematische Auslegung ist unergiebig. § 23 KSchG – in dessen Rahmen das BAG Leiharbeitnehmer im Entleiherbetrieb berücksichtigt[15] – ist nicht zwingend wie § 17 KSchG auszulegen, wie z. B. der Betriebsbegriff zeigt. Entscheidend sind daher – auch nach dem Ansatz der Rechtsprechung des BAG – Sinn und Zweck der jeweiligen Norm, die den Schwellenwert regelt. Der hier maßgebliche § 17 Abs. 1 KSchG hat 3 Schutzrichtungen: Der arbeitsmarktpolitische Zweck, die Arbeitsverwaltung durch die Anzeige der beabsichtigten Entlassungen in die Lage zu versetzen, sich auf die zu treffenden Maßnahmen vorzubereiten, gebietet nicht die Einbeziehung von Leiharbeitnehmern bei der Frage, ob es sich um eine anzeigepflichtige Entlassung handelt. Denn es ist nicht abzusehen, dass es bei einer Entlassungswelle im Entleiherbetrieb überhaupt zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Leiharbeitnehmers mit dem Verleiher kommt.[16] Selbst wenn im Rahmen des Stellenabbaus beim Entleiher der Einsatz des Leiharbeitnehmers beendet wird, besteht der Arbeitsvertrag zum Verleiher fort und kann nicht ohne Weiteres vom Verleiher betriebsbedingt gekündigt werden, da es gerade zum Betriebsrisiko des Verleihers gehört, für den Leiharbeitnehmer neue Einsatzmöglichkeiten ...

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