Rz. 10

Dem Arbeitnehmer bleibt der Entgeltfortzahlungsanspruch aus § 3 Abs. 1 EFZG nach § 8 Abs. 1 Satz 1 EFZG nur erhalten, wenn der Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit zum Anlass für den Ausspruch einer Kündigung nimmt. "Anlass" meint den äußeren Anstoß im Sinne einer objektiven Ursache[1], während "Motiv"[2] den inneren Beweggrund, gerade dem Arbeitsunfähigen zu kündigen, erfasst. Im Rahmen des § 8 EFZG kommt es allein auf die objektive Ursache, also den Anlass, nicht jedoch auf das Motiv zur Kündigung an.[3] Der Begriff des Anlasses ist auch nicht gleichbedeutend mit dem des Kündigungsgrundes.[4] Kündigungsgründe können in inner- oder außerbetrieblichen Belangen, im Verhalten oder in der Person des Arbeitnehmers liegen.[5] Der Arbeitgeber kann folglich auch aus krankheitsbedingten Gründen (z. B. Langzeiterkrankung, häufige Kurzzeiterkrankungen) das Arbeitsverhältnis durch Kündigung beenden, ohne dass dem § 8 EFZG entgegenstünde.[6]

 

Rz. 11

Den Anlass für eine Kündigung des Arbeitgebers i. S. d. § 8 Abs. 1 Satz 1 EFZG stellt eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers dar, wenn diese für den Arbeitgeber den entscheidenden Anstoß für den Ausspruch der Kündigung gegeben und damit in seiner Entscheidung beeinflusst hat, gerade jetzt einen bestehenden Kündigungsgrund auszunutzen und die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu erklären.[7] Die Arbeitsunfähigkeit muss nicht die alleinige Ursache für die Kündigung sein, ausreichend und insoweit aber auch erforderlich ist es, wenn die Krankheit eine wesentliche mitbestimmende Bedingung für den Ausspruch der Kündigung darstellt und den entscheidenden Anstoß für den Kündigungsentschluss gegeben hat.[8] Allein ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit und dem Ausspruch einer Kündigung reicht jedoch für die Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 1 EFZG nicht aus[9] (vgl. zum Beweis des ersten Anscheins Rz. 25).

 

Rz. 12

Entsprechend dem Schutzzweck des § 8 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist der Begriff "aus Anlass" aber weit auszulegen.[10] Maßgebend ist, ob die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers einen objektiven Geschehensablauf in Gang setzt, der schließlich die Entscheidung des Arbeitgebers zum Ausspruch der Kündigung auslöst.[11] Eine Anlasskündigung liegt daher auch vor,

  • wenn sie nicht aus Anlass des Eintritts, sondern erst wegen der Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit erklärt wird[12], auch wenn der Arbeitgeber noch nicht sicher weiß, ob der Arbeitnehmer weiter arbeitsunfähig erkrankt ist und nur mit dieser Möglichkeit rechnet[13] oder
  • wenn andere Umstände zur bestehenden Arbeitsunfähigkeit hinzutreten, die erst den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers auslösen, aber im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeit stehen.[14]
 
Praxis-Beispiel

Kündigungen aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit liegen danach vor, wenn die Kündigung erfolgt z. B.

  • wegen Einstellung einer Ersatzkraft zur Vermeidung von Betriebsablaufstörungen infolge der krankheitsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers.[15]
  • wegen einer sich an die Arbeitsunfähigkeit anschließenden Berufs- und Erwerbsunfähigkeit des Arbeitnehmers.[16]
  • wegen eines mit der Arbeitsunfähigkeit in Zusammenhang stehenden gesetzlichen Beschäftigungsverbots.[17]
  • wegen betriebsbedingter Gründe und der Arbeitgeber ohne Durchführung einer sozialen Auswahl i. S. d. § 1 Abs. 3 KSchG gerade dem arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer kündigt oder die Arbeitsunfähigkeit bei der sozialen Auswahl i. S. d. § 1 Abs. 3 KSchG eine tragende Rolle für die Entscheidung des Arbeitgebers spielt.[18]
 

Rz. 13

Keine Anlasskündigung liegt hingegen vor, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis aus anderen Gründen kündigt und diese Gründe ein solches Gewicht haben, dass sie den Arbeitgeber auch ohne Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zum Ausspruch einer Kündigung veranlasst hätten.[19]

 
Praxis-Beispiel

Keine Kündigung aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit liegt danach vor, wenn die Kündigung erfolgt

  • aus verhaltensbedingten Gründen, z. B. Androhung einer künftigen Erkrankung; Ausübung einer Nebentätigkeit während der Arbeitsunfähigkeit; wiederholte und nachhaltige Verletzung der Anzeige- und Nachweispflichten gem. § 5 Abs. 1 EFZG trotz Abmahnung.
  • aus betriebsbedingten Gründen, z. B. Durchführung von Rationalisierungsmaßnahmen und Wegfall des Arbeitsplatzes des erkrankten Arbeitnehmers.
[1] LAG Schleswig-Holstein, Urteil v. 6.2.2014, 5 Sa 324/13, NZA-RR 2014 S. 291; Henssler/Willemsen/Kalb/Vogelsang, Arbeitsrecht Kommentar, 2020, § 8 EFZG, Rz. 15; nach Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 616, Rz. 422 bedeutet "aus Anlass", dass die krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung nicht das tragende Motiv der Kündigung sein müsse, es genüge eine schwächere Motivation.
[2] Vgl. zum "Motiv" § 617 Abs. 1 Satz 4 BGB: "wegen der Erkrankung ... gekündigt...".
[3] BAG, Urteil v. 17.4.2002, 5 AZR 2/01, NZA 2002, 899; vgl. aber auch Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung-Krankengeld-Mutterschaftsgeld, Stand August 2019, § 8 EFZG, Rz. 26, die meinen, dass Motiv und Anlass häuf...

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