Entscheidungsstichwort (Thema)

Herleitung des Schwangerschaftsbeginns durch statistische Wahrscheinlichkeit. Rückrechnung von 266 Tagen vom ärztlich angenommenen Entbindungstermin. 280 Tage Rückrechnung für Schwangerschaftsbeginn unzulässig

 

Leitsatz (amtlich)

Der Sonderkündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen gem. § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG knüpft am tatsächlichen Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung an. Will die Arbeitnehmerin das Vorliegen der Schwangerschaft über eine statistische Wahrscheinlichkeit herleiten, ist dies über einen Anscheinsbeweis möglich, der aber nur bei typischen Geschehensabläufen greifen kann. Ausgehend von einem typischen Geschehensablauf können zur Ermittlung des Zeitpunkts der Konzeption vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin nur 266 Tage zurückgerechnet werden. Die vom BAG in ständiger Rechtsprechung angewandte Rückrechnung um 280 Tage führt zu Ergebnissen, die mit typischen Schwangerschaftsverläufen nicht in Deckung zu bringen sind. (Abweichung von BAG 26. März 2015 - 2 AZR 237/14 -).

 

Normenkette

MuSchG § 17 Abs. 1 Nr. 1; KSchG § 1 Abs. 1; ZPO § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Heilbronn (Entscheidung vom 15.04.2021; Aktenzeichen 8 Ca 527/20)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.11.2022; Aktenzeichen 2 AZR 11/22)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 15.04.2021 (8 Ca 527/20) wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung zu tragen.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin und über Weiterbeschäftigung.

Die Klägerin wurde von der Beklagten mit Wirkung ab 15. Oktober 2020 eingestellt als hauswirtschaftliche Helferin. Sie sollte eingesetzt werden im Objekt "P. S.-R. N." in H. Ausweislich des von den Parteien am 8. Oktober 2020 unterzeichneten "Personalfragebogens" (Bl. 92-94 der arbeitsgerichtlichen Akte) wurde eine Befristung des Arbeitsverhältnisses bis 14. Oktober 2021 vereinbart sowie eine sechsmonatige Probezeit, innerhalb welcher das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden könne.

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig ca. 1.900 Mitarbeiter. Ein (Regional-) Betriebsrat ist bei ihr gebildet.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin mit Schreiben vom 6. November 2020 (Bl. 9 der arbeitsgerichtlichen Akte), der Klägerin zugegangen am 7. November 2020 "fristgerecht" zum 23. November 2020, hilfsweise zum nächst möglichen Termin. Der Betriebsrat wurde vor der Kündigung mit Schreiben vom 5. November 2020 (Bl. 28-29 der arbeitsgerichtlichen Akte) angehört. Er gab am 5. November 2020 eine abschließende Stellungnahme ab, gegen die Kündigung keine Bedenken zu haben.

Gegen diese Kündigung richtet sich die vorliegende Kündigungsschutzklage der Klägerin, die am 12. November 2020 beim Arbeitsgericht einging.

Mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 2. Dezember 2020, welcher beim Arbeitsgericht am 3. Dezember 2020 einging und von diesem an die Beklagte mit dortigem Zugang am 7. Dezember 2020 weitergeleitet wurde, teilte die Klägerin unter Beifügung einer "Schwangerschaftsbestätigung" ihrer Frauenärztin Frau P. vom 26. November 2020 (Bl. 35 der arbeitsgerichtlichen Akte) mit, schwanger zu sein und sich in der sechsten Schwangerschaftswoche zu befinden.

Im Laufe des Verfahrens legte die Klägerin eine weitere Schwangerschaftsbescheinigung der Frauenärztin Frau P. vom 27. Januar 2021 (Bl. 59 der arbeitsgerichtlichen Akte) vor, in welcher der voraussichtliche Geburtstermin mit 5. August 2021 angegeben wurde.

Die Klägerin hielt die Kündigung wegen Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG für unwirksam. Sie behauptete, zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits schwanger gewesen zu sein. Hiervon habe sie aber erst am 26. November 2020 Kenntnis erhalten. Sie meinte, die verspätete Mitteilung an die Beklagte sei daher unverschuldet. Die Mitteilung sei auch noch unverzüglich nach Kenntnis erfolgt.

Sie meinte zudem, der Betriebsrat hätte (im Nachgang) von der Schwangerschaft unterrichtet werden müssen. Die Betriebsratsanhörung sei deshalb nicht ordnungsgemäß erfolgt.

Die Klägerin beantragte:

  1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 6.11.2020 nicht zum 23.11.2020 aufgelöst worden ist.
  2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den Beendigungszeitpunkt hinaus fortbesteht.
  3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin zu unveränderten Bedingungen bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragte,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung. Angesichts vorheriger unklarer Schwangerschaftsselbsttests hätte die Kläger...

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