Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes gehört zu den wesentlichen Prinzipien des Europarechts. Dies hat der EuGH in seiner Rechtsprechung mehrfach bestätigt.[1] Für den Einzelnen resultiert daraus ein Anspruch auf richterliche Prüfung jeder Maßnahme, die in seine unionsrechtlich verliehenen Rechte eingreift.

[1] Vgl. nur EuGH, Urteil v. 15.5.1986, C-222/84 – Johnston.

1.5.1 Grundsatz: Rechtsschutz vor nationalen Gerichten

Ist nicht ausnahmsweise der direkte Klageweg zum Gericht der Europäischen Union (EuG)[1] eröffnet, muss gegen die Verletzung des EU-Rechts zunächst vor dem nationalen Richter vorgegangen werden. Klageart und Zulässigkeitsvoraussetzungen richten sich in diesem Fall nach nationalem Recht. Das nationale Gericht prüft von Amts wegen[2], ob unmittelbar anwendbare europarechtliche Bestimmungen für den Sachverhalt entscheidungserheblich sind. Bejaht es diese Frage, so kann es wegen des Vorrangs des Unionsrechts entgegenstehendes nationales Recht unangewendet lassen und unmittelbar auf das Europarecht zurückgreifen. Bei nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinien ist das nationale Recht ggf. richtlinienkonform auszulegen. In der Praxis kommt es indes häufig vor, dass Zweifel über die genaue Bedeutung oder gar die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung bestehen. Dann stellt sich für den mitgliedstaatlichen Richter die Frage, ob er eine sog. Vorabentscheidung des EuGH bzw. des EuG[3] einholen muss.

[1] Vor dem Lissabonner Vertrag "Gericht erster Instanz" genannt.
[3] In bestimmten, von der Satzung des Gerichtshofs vorgesehenen Sachgebieten – zu denen das Arbeitsrecht nicht gehört – kann auch das EuG um Vorabentscheidung ersucht werden (Art. 256 Abs. 3 AEUV).

1.5.2 Vorabentscheidungsverfahren

Das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren stellt eine besondere Form der Kooperation zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH dar. Die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens hat das nationale Gericht immer dann zu prüfen, wenn sich Fragen der Auslegung des EU-Vertrags oder des AEU-Vertrags bzw. der Auslegung oder Gültigkeit sekundärrechtlicher Vorschriften stellen und diese Fragen entscheidungserheblich sind. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Vorlagemöglichkeit und Vorlagepflicht. Während jedes nationale Gericht berechtigt ist, Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, sind nur einige Gerichte dazu verpflichtet. Eine Pflicht zur Vorlage besteht, wenn die Entscheidung des mit der Sache befassten Gerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann. Daher sind alle letztinstanzlichen Gerichte – wie auch stets das Bundesarbeitsgericht – zur Vorlage verpflichtet. Wichtig ist aber, dass es allein auf das Fehlen weiterer Instanzen ankommt.[1] Zuletzt haben die Vorlagen des BAG an den EuGH erheblich an Dynamik gewonnen; im Jahr 2020 hat das BAG den EuGH allein zum Urlaubsrecht 3 Mal um Klarstellung ersucht.[2]

Immer vorlageverpflichtet sind (auch unterinstanzliche) Gerichte, wenn sie eine sekundärrechtliche Vorschrift für nichtig halten und den Fall daher ohne Berücksichtigung dieser Vorschrift entscheiden wollen (sog. Verwerfungsmonopol des EuGH).[3] Eine Ausnahme von den Vorlagepflichten besteht nur, wenn das konkrete Rechtsproblem entweder bereits vom EuGH entschieden wurde oder die Lösung des Problems offenkundig ist (sog. acte clair-Prinzip).[4] Eine Nichtvorlage an den EuGH kann andererseits eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sein.[5]

Bei jeder Vorabentscheidung ist zu beachten, dass der EuGH keinesfalls zur Lösung des nationalen Rechtsproblems Stellung nimmt. Auch die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Europarecht entscheidet er nicht. Der EuGH äußert sich ausschließlich dazu, wie die relevanten unionsrechtlichen Vorschriften auszulegen bzw. ob sie wirksam sind.[6]

[1] Sog. konkrete Betrachtungsweise; vgl. BVerfG, Beschluss v. 13.6.1997, 1 BvR 2102/95; EuGH, Urteil v. 15.7.1964, C-6/64 – Costa; EuGH, Urteil v. 4.6.2002, C-99/00 – Lyckeskog.
[2] BAG, Beschluss v. 17.6.2020, 10 AZR 210/19 (A); BAG, Beschluss v. 7.7.2020, 9 AZR 401/19 (A); BAG, Beschluss v. 29.9.2020, 9 AZR 266/20 (A); vgl. auch Fischer/Fuhlrott, RdA 2022, 19; vgl. zur Rechtsprechung des EuGH im Arbeitsrecht im Jahr 2021: Franzen, EuZA 2022, 186.
[6] Vgl. ErfK-Schlachter, 22. Aufl. 2022, Art. 267 AEUV, Rzn. 43 ff.

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