Die EU ist darauf angewiesen, dass ihre Rechtsvorschriften überall in der Union gleichermaßen angewendet werden. Die einheitliche Anwendung wird dadurch gewährleistet, dass die Regeln des Unionsrechts im Konfliktfall jeder Vorschrift des nationalen Rechts, auch dem Verfassungsrecht, vorgehen (Vorrang des Unionsrechts). Die wichtigste Konsequenz des Vorrangprinzips ist, dass die nationalen Behörden und Gerichte mitgliedstaatliche Normen unangewandt lassen müssen, wenn sie von unmittelbar anwendbarem Europarecht abweichen.[1] Bevor eine Abweichung angenommen wird, müssen die nationalen Gerichte aber versuchen, mitgliedstaatliches Recht so zu interpretieren, dass es nicht im Widerspruch zu EU-Recht steht und somit ein schonender Ausgleich zwischen den Rechtsordnungen erreicht wird (sog. europarechtskonforme Auslegung).[2] Auf diese Art ist nationales Recht auch dann auszulegen, wenn es von nicht unmittelbar wirkendem Unionsrecht abweicht.[3] Nationale Normen sind in Streitigkeiten zwischen Privaten daher spätestens ab Ablauf der Umsetzungsfrist[4] im Sinne nicht umgesetzter Richtlinien auszulegen. Hat ein mitgliedstaatlicher Gesetzgeber nach Erlass einer Richtlinie eine nationale Rechtsnorm zu der geregelten Frage erlassen, muss diese Norm sogar schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform ausgelegt werden, weil es den Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag untersagt ist, einer Richtlinie widersprechendes Recht zu erlassen (sog. Frustrationsverbot).[5] Indem der EuGH diese Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung äußerst weit ausdehnt, verwischt er zusehends die Abgrenzung der (bloßen) europarechtskonformen Auslegung nationalen Rechts gegenüber der (umfassenden) unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien zwischen Privaten.[6]

[4] Eine unionsrechtskonforme Auslegung durch die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist ist möglich, sie sind dazu aber nicht verpflichtet: BGH, Urteil v. 5.2.1998, I ZR 211/95.
[6] Kritisch dazu Thüsing ZIP 2004, S. 2301.

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