Das europäische Arbeitsrecht ist keine eigenständige Rechtsmaterie. Ähnlich wie das deutsche Arbeitsrecht einen – wenn auch stark verselbstständigten und öffentlich-rechtlich beeinflussten – Teil des deutschen Zivilrechts darstellt, gehört auch das europäische Arbeitsrecht der umfassenderen Rechtsmaterie des Europarechts an. Es unterliegt dessen Regeln und lässt sich in seinen Auswirkungen auf das nationale Recht nur vor dem Hintergrund der besonderen Funktionsweise des Europarechts verstehen.

1.1 Begriff des "Europarechts"

Schon der Begriff "Europarecht" oder "europäisches Unionsrecht" ist präzisierungsbedürftig, da er in der Praxis in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird. Zu unterscheiden ist zwischen dem Europarecht in einem weiteren und in einem engeren Sinne.

In einem weiteren Sinne wird das Europarecht verstanden als die Summe aller Rechtsregeln, die für die Europäische Union (EU) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) gelten.[1] Die Europäische Gemeinschaft (EG) wurde mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags am 1.12.2009 aufgelöst, die EU wurde nach Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EU-Vertrag (EUV) ihre Rechtsnachfolgerin.[2] Bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags hatte die EU keine eigene Rechtspersönlichkeit, nun hat sie als Rechtsnachfolgerin der EG Rechtspersönlichkeit, wie auch Art. 47 EUV ausdrücklich klarstellt. Vor Geltung des Lissabonner Vertrags wurde die EU als Dachverband angesehen, der auf den 3 Säulen der EU, namentlich den Europäischen Gemeinschaften, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) ruhte. Auch wenn die EU diese 3 Bereiche weiterhin umfasst, so beschreibt das Drei-Säulen-Modell die EU nun nicht mehr richtig, da sie eigene Rechtspersönlichkeit besitzt und somit mehr als ein Dachverband ist. Zum Europarecht im weiteren Sinne zählen außerdem die zwischenstaatlichen Verträge der EU-Mitgliedstaaten. Auf diesen Verträgen ruhen weitere europäische Institutionen, wie etwa der Europarat.

In einem engeren Sinne ist mit der Bezeichnung "Europarecht" häufig aber nur das Recht der Europäischen Union ("EU-Recht") gemeint. Das Europarecht im weiteren Sinne umfasst eine Vielzahl von rechtlichen Regeln, die für die meisten Wirtschaftstreibenden in den EU-Mitgliedstaaten von eher geringer Bedeutung sind. Das Recht der EU ist dagegen von enormer allgemeiner Relevanz. Die meisten in der Praxis bedeutsamen europäischen Vorgaben stammen entweder aus dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag[3] oder beruhen auf deren Ermächtigungsgrundlagen. Dies gilt auch für das europäische Arbeitsrecht. In den folgenden Ausführungen wird daher unter dem "Europarecht" nur das Recht der EU verstanden.

[1] Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ist nach einer Laufzeit von 50 Jahren (Art. 97 EGKS) zum 23.7.2002 aufgelöst und in die Europäische Gemeinschaft (EG) integriert worden.
[2] Die Kompetenzerweiterungen der EU aufgrund des Lissabon-Vertrags sind laut BVerfG, Urteil v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 mit dem Grundgesetz vereinbar.
[3] Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der nach Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV, Art. 1 Abs. 2 Satz 2 AEUV rechtlich gleichrangig neben dem EUV steht. Der AEUV ist Nachfolger des EGV und zum 1.12.2009 in Kraft getreten. Wenn im Folgenden Bestimmungen des AEUV zitiert werden, sind damit auch die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Normen des EG-Vertrags bzw. des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) gemeint.

1.2 Primär- und Sekundärrecht

Seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags ist die Bezeichnung "Gemeinschaftsrecht" nicht mehr richtig, sondern die früher als Gemeinschaftsrecht bezeichneten Normen heißen nun "Unionsrecht".

Trotz seiner völkerrechtlichen Grundlage unterscheidet sich das Europarecht erheblich von den aus dem klassischen Völkerrecht bekannten Mustern. So sind zahlreiche Bestimmungen des Unionsrechts ohne weiteren Umsetzungsakt unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirksam und die Organe der EU können sogar selbstständig neues Recht schaffen, ohne dabei auf die Mitwirkung der nationalen Parlamente angewiesen zu sein. Aus Letzterem folgt die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrecht.

Zum Primärrecht, das an oberster Stelle der unionsrechtlichen Normenpyramide steht, zählen insbesondere die Vorschriften des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags. Ähnlich wie eine nationale Verfassung enthalten diese Verträge zunächst einige fundamentale Rechtssätze wie etwa die Grundfreiheiten (AEUV), das Subsidiaritätsprinzip[1] oder das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.[2] Als Grundfreiheiten werden dabei die Vertragsvorschriften bezeichnet, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EG garantieren. Hierzu gehört auch die in Art. 45 AEUV enthaltene Garantie der Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Art. 6 Abs. 1 EUV erklärt die Charta der Grundrechte der EU zum primären Unionsrecht. Art. 6 Abs. 2 EUV gibt der EU die rechtliche Grundlage für ei...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Personal Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge