Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Unterbringung in einem Fürsorgeheim

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der in Ausführung einer Fürsorgeerziehung in einem Heim untergebrachte Minderjährige ist bei Tätigkeiten, die er aufgrund der ihn dazu verpflichtenden Hausordnung im landwirtschaftlichen Betrieb des Heimes ohne Entgelt verrichtet, nach RVO § 540 auch dann versichert, wenn es sich um ein offenes Heim handelt.

2. Zuständiger Träger der Unfallversicherung ist nach RVO § 655 Abs 2 Nr 3 das Land, in dem sich das Heim befindet.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 540 Fassung: 1963-04-30, § 653 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1963-04-30, § 655 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1963-04-30; JWG § 65 Fassung: 1961-08-17, § 64 Fassung: 1961-08-17, § 71 Fassung: 1961-08-17; FrhEntzG § 2 Fassung: 1956-06-29; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1949-05-23, Art. 19 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 11 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 104 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Beigeladenen gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1972 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht von Saarlouis ordnete durch Beschluß vom 11. August 1967 (2 H XII 3289) gemäß §§ 64, 65 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt vom 11. August 1961 - JWG aF - (BGBl I 1206) die Fürsorgeerziehung des am 4. Juli 1951 geborenen Willi H (H.) an. In Ausführung des Beschlusses wurde H. ab 15. September 1967 in dem Jugendheim S Krs. S (Hessen) untergebracht. Träger des Heimes ist die Genossenschaft der S, Körperschaft des öffentlichen Rechts, M. Das Jugendheim betreibt eine Landwirtschaft; der Unternehmer (Bischöflicher Stuhl) ist Mitglied der Klägerin. Im landwirtschaftlichen Betrieb des Jugendheimes war H. als Hilfsarbeiter tätig; er wurde für seine Arbeit nicht entlohnt. Am 6. November 1967 erlitt H. beim Aufladen von Bordsteinen für die Landwirtschaft einen Unfall. Ein Bordstein war ihm auf den rechten Fuß gefallen und hatte den 1. Mittelfußknochen gebrochen. Die Kosten der Heilbehandlung in Höhe von insgesamt 101,78 DM trug die Klägerin. Nach Mitteilung des behandelnden Arztes an die Klägerin vom 16. Februar 1968 war H. ab 14. Dezember 1967 wieder arbeitsfähig; erwerbsmindernde Folgen hatte der Unfall nicht hinterlassen. Die von der Klägerin gemäß § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Anerkennung der Entschädigungspflicht aufgeforderten Ausführungsbehörden für Unfallversicherung des Saarlandes und des Landes Hessen lehnten eine Anerkennung ihrer Entschädigungspflicht ab. Das Sozialgericht (SG) Kassel hat die Landesausführungsbehörde für Unfallversicherung des Saarlandes verurteilt, der Klägerin 101,78 DM zu erstatten (Urteil vom 30. Juli 1970). Der Verletzte H. sei durch die Heimeinweisung aufgrund eines Gesetzes seiner Freiheit beraubt und daher nach § 540 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Zuständiger Versicherungsträger sei das Saarland, das die Kosten der Heimunterbringung getragen habe. Das SG hat die Berufung zugelassen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Hessische Ausführungsbehörde für Unfallversicherung zur Erstattung von 101,78 DM an die Klägerin verurteilt (Urteil vom 19. April 1972). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Verletzte H. sei während einer aufgrund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung wie ein nach § 539 Abs. 1 RVO Versicherter tätig gewesen und habe daher nach § 540 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Die Heimunterbringung beruhe auf §§ 64, 65 JWG aF. In § 71 JWG aF werde bestimmt, daß für die Unterbringung in Fürsorgeerziehung die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -) und der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) insoweit eingeschränkt würden. Unter "Freiheit der Person" sei nach herrschender Meinung die "Freiheit der Bewegung" zu verstehen; das Grundrecht der "Freizügigkeit" bedeute das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Die Einschränkungen dieser Grundrechte komme für den in Fürsorgeerziehung untergebrachten Jugendlichen einer Freiheitsentziehung gleich. Zwar bestimme das Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29. Juni 1956 - FEntzG - (BGBl I 599) in § 2, daß Freiheitsentziehung u.a. die Unterbringung einer Person gegen ihren Willen in einer "abgeschlossenen" Anstalt der Fürsorge ist. Bei dem Jugendheim S handele es sich nicht um eine "abgeschlossene" Anstalt der Fürsorge in dem Sinn, daß die dort untergebrachten Jugendlichen sich nicht hätten frei bewegen und das Heim nach Feierabend hätten verlassen dürfen. Jedoch finde die Freiheitsentziehung eindeutig darin ihren Ausdruck, daß die Unterbringung zwangsweise erfolge und der dort untergebrachte Fürsorgezögling seinen Aufenthalt nicht frei wählen dürfe. Desgleichen könne er auch seinen Arbeitsplatz nicht frei bestimmen oder nach Belieben wechseln. Zwar könne er das Haus nach vorheriger Abmeldung, zB. nach Feierabend, verlassen. Es bleibe jedoch die Pflicht bestehen, wieder in das Heim zurückzukehren. Die Unterbringung wirke sich auch darin aus, daß er erforderlichenfalls zwangsweise wieder eingeliefert werden könne. Die Auffassung, daß die zwangsweise Unterbringung in einem Jugendheim als Freiheitsentziehung im Sinne des § 540 RVO anzusehen sei, finde ihre Bestätigung in der BT-Drucksache IV/120 S. 52, wo zur Begründung des § 540 RVO ausgeführt sei, daß Fürsorgezöglinge zum Personenkreis dieser Vorschrift gehörten. Die gesetzliche Regelung solle solchen Personen, die im Rahmen einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zwangsweise Tätigkeiten verrichten, den gleichen Unfallversicherungsschutz wie freien Arbeitnehmern einräumen. Dieser Schutz würde für Fürsorgezöglinge niemals wirksam werden, wenn die zwangsweise Unterbringung in einem Heim nicht als Freiheitsentziehung anzusehen wäre, da die dort verrichteten Tätigkeiten nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne von § 539 Abs. 1 RVO ausgeübt würden. Eine nach § 539 Abs. 1 RVO versicherte Tätigkeit setze einen freien Willensentschluß des Arbeitenden voraus. Daran habe es bei H. gefehlt; er sei aufgrund der bestehenden Hausordnung auch gegen seinen Willen zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen. Von den nach § 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO als Versicherungsträger zuständigen Ländern sei in Fällen, in denen für die die Freiheitsentziehung anordnende Stelle und für die Vollzugsanstalt zwei verschiedene Versicherungsträger vorhanden seien, aus Zweckmäßigkeitsgründen nur das Land als Versicherungsträger heranzuziehen, in dessen Bereich die Freiheitsentziehung vollzogen werde (Vollzugsprinzip), nicht aber der für die Stelle, welche die Freiheitsentziehung angeordnet hat, zuständige Unfallversicherungsträger (Anordnungsprinzip).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beigeladene hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe § 540 RVO auf den vorliegenden unstreitigen Sachverhalt unrichtig angewendet. Es sehe jede zwangsweise durch gerichtliche Entscheidung angeordnete Einweisung in Fürsorgeerziehung als Freiheitsentzug im Sinne des § 540 RVO an. Seiner Ansicht nach müsse jedoch zur Auslegung des Begriffs "Freiheitsentziehung" § 2 FEntzG herangezogen werden, wonach einer Person die Freiheit entzogen worden sei, wenn sie gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit u.a. in einer abgeschlossenen Anstalt der Fürsorge untergebracht sei. Nur eine solche restriktive Auslegung des Begriffs Freiheitsentziehung werde dem Wesen der Fürsorgeerziehung als einer Form der öffentlichen Erziehungshilfe gerecht, bei der die Erziehungsmaßnahmen im Vordergrund ständen und nicht die Entziehung der Freiheit des Zöglings. Bei dem Jugendheim S handele es sich unstreitig um keine abgeschlossene Anstalt. Die dort untergebrachten Jugendlichen seien demzufolge auch keine unfreien Personen im Sinne des § 540 RVO. Daraus folge weiter, daß H. zur Zeit des Unfalls nach § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO versichert gewesen sei.

Die Beklagte schließt sich den Ausführungen des Beigeladenen an.

Der Beigeladene beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 19. April 1972 dahin zu ändern, daß anstelle der Hessischen Ausführungsbehörde für Unfallversicherung die Hessen-Nassauische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft für leistungspflichtig erklärt wird.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 19. April 1972 und des SG Kassel vom 30. Juli 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, der Verletzte sei aufgrund gesetzlicher Vorschriften, nämlich der §§ 64 und 65 JWG aF, in Fürsorgeerziehung eingewiesen worden. Daß diese Einweisung eine Freiheitsentziehung darstelle, ergebe sich allein schon aus § 71 Abs. 1 JWG aF. In dieser Vorschrift habe es der Gesetzgeber für erforderlich gehalten, für den Fall der Fürsorgeerziehung ausdrücklich die Grundrechte der Freiheit der Person und der Freizügigkeit einzuschränken. Die Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen, die hier praktizierte Art der Fürsorgeerziehung sei nicht mit einer Freiheitsentziehung verbunden, sei unzutreffend. Zwar mögen sich die in ein solches Heim eingewiesenen Zöglinge, wie das LSG festgestellt habe, gegebenenfalls nach Arbeitsschluß für kurze Zeit "abmelden" können. Gleichwohl verbleibe es in einer solchen Zeit bei einer Freiheitsentziehung, denn der gesamte Tages- und vor allem Arbeitsablauf seien zeitlich und örtlich genau reglementiert. Keiner der Zöglinge habe die Möglichkeit, irgendwie wesentliche oder richtungsgebende Entschlüsse selbst zu fassen und auszuführen. Soweit ein kurzer Ausgang gewährt werde, handele es sich allenfalls um "Freiheitsentziehung an langer Leine". Fürsorgezöglinge seien gleichviel, ob die Anstalt mehr oder weniger geschlossen sei, stets in den hier wesentlichen Gesichtspunkten "unfreie" Personen. Auch sei es rechtlich ohne Bedeutung, daß es zu den entscheidenden Aufgaben der Fürsorgeerziehung zähle, die Zöglinge zu erziehen. Diese Aufgabe obliege gleichermaßen auch dem Strafvollzug, obgleich dort im Verhältnis zur Fürsorgeerziehung eine Schwerpunktverlagerung in der Aufgabenstellung gegeben sei. Eine sinngerechte Anwendung des § 540 RVO führe also dazu, daß Fürsorgezöglinge in jedem Falle nur nach dieser Vorschrift gesetzlichen Unfallversicherungsschutz haben. Dies entspreche auch dem während des Gesetzgebungsverfahrens zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, auf den das LSG zutreffend hingewiesen habe.

II.

Das LSG hat im Urteilseingang die Ausführungsbehörden für Unfallversicherung des Saarlandes und des Landes Hessen als Beklagte und Beigeladene bezeichnet. Da das LSG darüber entschieden hat, welcher andere Versicherungsträger gemäß § 1735 RVO seine Entschädigungspflicht für den Unfall des H. anzuerkennen und der Klägerin die von ihr für diesen Unfall gemachten Aufwendungen nach § 1738 RVO zu ersetzen hat, kommen als Beteiligte nur Träger der Unfallversicherung in Betracht. Dies sind hier neben der Klägerin gemäß § 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO die Länder, und zwar das Saarland und das Land Hessen. Sie sind daher im Urteilseingang als Beklagter und Beigeladener zu bezeichnen. Ihre Aufgaben werden nach § 766 Abs. 2 RVO durch Ausführungsbehörden wahrgenommen, die selbst keine Versicherungsträger sind. Die Bezeichnung der wirklich Beteiligten war daher richtigzustellen (BSG 15, 127, 129; vgl. auch BSG SGb 1957, 211, 213).

Die Revision des Beigeladenen ist nicht begründet.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Beigeladene (Land Hessen) der für die Entschädigung des Unfalls des H. zuständige Versicherungsträger ist (§ 1735 RVO) und daher der Klägerin (Hessen-Nassauische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft) die von ihr für diesen Unfall gemachten Aufwendungen zu ersetzen hat (§ 1738 RVO).

Mit dem LSG ist der Senat der Auffassung, daß der Minderjährige H. zur Zeit des Unfalls nicht aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses in der zum Jugendheim S. gehörenden Landwirtschaft tätig und nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO iVm §§ 776, 790 RVO bei der Klägerin gegen Arbeitsunfall versichert war. Aus den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) geht hervor, daß H. in der Landwirtschaft unentgeltlich arbeitete und dazu aufgrund der Hausordnung auch gegen seinen Willen verpflichtet war. Zum Wesen der Fürsorgeerziehung gehört, daß sie Zwangscharakter hat. Der Erziehungszweck, den Minderjährigen zu einem brauchbaren und ordentlichen Menschen zu erziehen, verlangt in erster Linie, ihn zu gewissenhafter und regelmäßiger Arbeitsleistung anzuhalten (vgl. LVG Hamburg in Sammlung jugendrechtlicher Entscheidungen - SjE - E 16/619). Das mit der Durchführung dieser Erziehungsaufgabe betraute Heim (Heimträger) tritt dem Fürsorgezögling daher regelmäßig nicht als Arbeitgeber entgegen, sondern als Organ der Erziehungsbehörde, auf das diese ihr öffentlich-rechtliches Erziehungsrecht übertragen hat (vgl. Deutsch, Anm. zu einem Urteil des LArbG Frankfurt in SjE E 16/622 b). Bei der Tätigkeit des Minderjährigen H. in der Landwirtschaft des Heimes hat es sich somit nicht um ein freies auf Austausch von Arbeit und Lohn gerichtetes Beschäftigungsverhältnis gehandelt. Dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO unterliegen jedoch nur die in einem freien Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis Tätigen (vgl. BSG 18, 246, 251; SozR Nr. 54 zu § 165 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 472 f mit weiteren Nachweisen). Das schließt allerdings nicht aus, daß auch während der Fürsorgeerziehung ein freies Beschäftigungsverhältnis oder Ausbildungsverhältnis bestehen kann (RVA AN 1900, 531; BSG 18, 246; SozR Nr. 2 zu § 14a BKGG; vgl. auch BSG 12, 71). Bei Ausführung der Fürsorgeerziehung gilt die Erziehungsbehörde nach § 69 Abs. 4 JWG aF als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen für Rechtsgeschäfte, welche die Eingehung, Änderung oder Aufhebung eines Arbeits- oder Berufsausbildungsverhältnisses betreffen. Sie kann daher, sofern es der Erziehungszweck erfordert, für den Minderjährigen auch bei Heimunterbringung ein freies Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis begründen, das nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO dem Versicherungsschutz gegen Arbeitsunfall unterliegen würde. Im vorliegenden Fall ist dies nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG jedoch nicht geschehen.

Mangels eines freien Beschäftigungsverhältnisses kommt für H. im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände ein Unfallversicherungsschutz allenfalls nach § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO in Betracht. Während § 539 Abs. 2 RVO alle Personen umfaßt, die wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter in einem freien Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnis tätig werden, regelt den Versicherungsschutz derjenigen Personen, die solche Tätigkeiten während einer aufgrund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung (oder aufgrund strafrichterlicher Anordnung) verrichten, § 540 RVO. Diese Vorschrift ist eine den § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO hinsichtlich eines bestimmten Personenkreises konkretisierende spezielle und daher ihr vorgehende Vorschrift (vgl. Ilgenfritz, BABl 1963, 452, 453). Andererseits hat sie auch nur subsidiäre Bedeutung, denn § 540 RVO gilt nicht (Satz 2), wenn die von ihm umfaßten Personen bereits nach § 539 Abs. 1 RVO versichert sind (vgl. BT-Drucks. IV/938 - neu -, schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, S. 5 zu § 540; Brackmann, aaO, S. 472 f II).

Nach seinem Wortlaut betrifft § 540 RVO Personen, deren durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiertes (Grund-)Recht auf Freiheit aufgrund eines förmlichen Gesetzes (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art.19 Abs. 1 GG) und durch richterliche Entscheidung (Art. 104 Abs. 2 GG) in einem Ausmaß beschränkt worden ist, daß diese Beschränkung einer Entziehung der Freiheit gleichkommt. Auf diese weitgehende Art der Freiheitsbeschränkung bezieht sich der in § 2 FEntzG von der Einschließung und Absperrung her definierte Begriff der Freiheitsentziehung; § 2 FEntzG führt u.a. ausdrücklich die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt der Fürsorge auf. Nach Sinn und Zweck gilt § 540 RVO aber auch für die in Ausführung einer Fürsorgeerziehung in einer offenen Anstalt (§ 69 Abs. 3/JWG aF: Heim) untergebrachten Minderjährigen, wie dies im Jugendheim S. der Fall war.

Nach der Begründung der Bundesregierung zu der erst durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) in die RVO eingefügten Vorschrift des § 540 sollte den unfreien Arbeitern der gleiche Unfallschutz eingeräumt werden wie den freien Arbeitnehmern (BT-Drucks. IV/120 S. 52 zu § 540 RVO). Die gleichzeitige Aufhebung des Gesetzes betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene vom 30. Juni 1900 (Art. 4 § 16 Abs. 2 Nr. 1 UVNG) weist auf die größte Gruppe der unfreien Arbeiter hin, deren Schutz gegen Arbeitsunfall durch § 540 RVO neu geregelt werden sollte. Entsprechend dem erkennbaren Sinngehalt dieser Vorschrift, frei und unfrei Tätige gleichzustellen, gilt sie darüber hinaus für alle Arbeitskräfte, die bei Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit ohne freie Selbstbestimmung für andere wirtschaftliche Arbeitsleistungen erbringen. Die Bundesregierung hat in der Begründung zu § 540 RVO die Auffassung vertreten, daß diese Vorschrift u.a. auch Fürsorgezöglinge betrifft, ohne dabei nach der Art der Heimunterbringung - geschlossen oder offen - zu unterscheiden. Nach Meinung des erkennenden Senats ist diese Auffassung durch die umfassende Schutzfunktion des § 540 RVO gerechtfertigt. Würden nicht auch die in offenen Heimen ohne freie Selbstbestimmung arbeitenden Fürsorgezöglinge von § 540 RVO umfaßt, wären sie im Hinblick auf die nur für freie Beschäftigungs- und Ausbildungsverhältnisse geltenden Vorschriften des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO und des § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO gegen Arbeitsunfall nicht versichert und damit gegenüber den in geschlossenen Heimen in gleicher Weise tätigen Fürsorgezöglinge, auf die § 540 RVO Anwendung findet, ungerechtfertigt benachteiligt. Das würde dem erklärten Ziel, mit § 540 RVO eine möglichst vollständige Angleichung an die für freie Arbeitnehmer geltenden Bedingungen zu erreichen, nicht entsprechen.

Die Einbeziehung der Minderjährigen, die in Ausführung einer durch das Vormundschaftsgericht angeordneten Fürsorgeerziehung (§§ 64, 65 JWG aF) in einem Heim unfreie Tätigkeiten verrichten, in den Versicherungsschutz nach § 540 RVO, erübrigt weitere Erörterungen darüber, inwieweit es sich infolge der Art des Heimes - geschlossen oder offen - um eine Freiheitsbeschränkung handelt, die als Freiheitsentziehung anzusehen ist. Eine Freiheitsentziehung ist die Fürsorgeerziehung jedenfalls nicht schon deshalb, weil sie nur durch gerichtliche Entscheidung angeordnet werden darf (§ 65 JWG aF) und für die Unterbringung in Fürsorgeerziehung das Grundrecht der Freiheit der Person insoweit eingeschränkt wird (§ 71 JWG aF). Für die Anwendung des § 540 RVO auf Tätigkeiten der hier vorliegenden Art, mögen sie in einem geschlossenen oder offenen Heim der Fürsorge ausgeübt werden, ist es auch unerheblich, aus welchen Motiven und zu welchen Zwecken eine Heimunterbringung angeordnet worden ist. Eine Freiheitsentziehung würde auch dann vorliegen, wenn die Heimunterbringung im Interesse des Betroffenen liegt, weil sie seiner Erziehung oder Fürsorge dient (OLG Hamm FamRZ 1962, 397; Maunz/Düring, Grundgesetz, Rdn. 6 zu Art. 104). Gleichfalls bedarf es zur Beantwortung der Frage nach dem Versicherungsschutz nicht der Unterscheidung, ob die verrichtete Tätigkeit auf erzieherische Einwirkung oder Arbeitszwang beruht (Vollmar, SozVers 1964, 52; vgl. AN 1900, 531; 1905, 208; 1908, 438).

Zutreffend hat das LSG das beigeladene Land als den für die Entschädigung des Unfalls zuständigen Versicherungsträger angesehen.

Außer bei einer strafrichterlichen Anordnung durch ein Gericht des Bundes, die in Fällen des § 540 RVO auch die Zuständigkeit des Bundes als Versicherungsträger zur Folge hat (§ 653 Abs. 1 Nr. 6 RVO), ist für die Entschädigung der nach § 540 RVO versicherten Personen gemäß § 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO das Land Träger der Versicherung. Diese Vorschrift enthält keine § 653 Abs. 1 Nr. 6 RVO entsprechende Einschränkung. Während des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Auffassung vertreten, daß das Land, das Träger des Vollzugs und der Vollzugseinrichtungen ist, auch Träger der Versicherung sei (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 1961, Ausschuß für Sozialpolitik, Protokoll Nr. 15 S. 24). Der Beigeladene hat dazu im Berufungsverfahren vorgetragen, daß unter den Länderausführungsbehörden für Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland Übereinstimmung bestehe, daß für Unfälle nach § 540 RVO regelmäßig die Zuständigkeit des Landes gegeben sei, in dem der Strafvollzug stattfindet, und daß nicht entscheidend sei, welches Gericht die Strafe verhängt habe. Der erkennende Senat hält es daher für gerechtfertigt, in Fällen der vorliegenden Art das Land als zuständig anzusehen, in dessen Gebiet sich die Einrichtung zur Vollziehung der Fürsorgeerziehung befindet. Kein entscheidendes Gewicht kommt dem Umstand zu, ob dieses Land auch Träger der Vollzugseinrichtung ist. Die Fürsorgeerziehung wird nach § 69 Abs. 1 und 3 JWG aF unter Aufsicht des Landesjugendamts u.a. als Heimerziehung entweder in staatlichen oder kommunalen Heimen oder - wie überwiegend - in nichtöffentlichen Heimen durchgeführt, die staatlicher Beaufsichtigung unterliegen (Potrykus, Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Anl. Anm. 6 zu § 69). Die Aufsicht obliegt nach den §§ 20 Abs. 1 Nr. 8, 78 JWG aF dem Landesjugendamt, in dessen Bezirk die zu beaufsichtigende Einrichtung gelegen ist (Potrykus aaO Anm. 5 zu § 78). Im Land Hessen ist das Landesjugendamt als obere Landesbehörde errichtet (§ 7 Abs. 1 des Gesetzes über Jugendwohlfahrtsbehörden idF vom 15. November 1954 - GVBl 191). Daher ist das Land Hessen der für die Entschädigung des Unfalls des H. zuständige Träger der Unfallversicherung. Es hat gemäß § 1738 RVO der Klägerin, die dem H. eine vorläufige Fürsorge zugewendet hatte (§ 1735 RVO), alle Aufwendungen zu ersetzen. Die Höhe dieser Aufwendungen beträgt 101,78 DM. Das Land hat den Beigeladenen zu Recht zur Zahlung dieses Betrages an die Klägerin verurteilt.

Die Revision der Beigeladenen mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.

Eine Kostenerstattung findet unter den Beteiligten gemäß § 193 Abs. 4 SGG nicht statt; eine Kostenentscheidung ist daher entbehrlich.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649335

BSGE, 104

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