Entscheidungsstichwort (Thema)

Konstituierung des Betriebsrats

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Vor der Konstituierung des Betriebsrats besteht keine Anhörungspflicht des Arbeitgebers nach § 102 Abs 1 BetrVG.

2.Den Arbeitgeber trifft auch grundsätzlich keine Pflicht, mit dem Ausspruch der Kündigung eines Arbeitnehmers zu warten, bis der Betriebsrat sich konstituiert hat.

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Entscheidung vom 30.07.1982; Aktenzeichen 13 Sa 438/82)

ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 17.11.1981; Aktenzeichen 8 Ca 228/81)

 

Tatbestand

Die Beklagte vertreibt Tiefkühlwaren an Großverbraucher sowie an Wiederverkäufer und beschäftigt etwa 150 Mitarbeiter. Die im Jahre 1955 geborene, ledige Klägerin war bei der Beklagten seit 15. November 1979 als Telefonverkäuferin halbtags mit einem Monatsgehalt von 1.000,-- DM (brutto) tätig.

Am 2. Juni 1981 hatte die Klägerin schriftlich Urlaub für den 4. und 5. Juni 1981 wegen eines Fernsehauftritts in Bremen beantragt. Sie blieb vom 3. bis 5. Juni 1981 der Arbeit fern. Daraufhin kündigte die Beklagte am 9. Juni 1981 das Arbeitsverhältnis fristlos mit dem Hinweis, die Klägerin habe eigenmächtig Urlaub genommen, obwohl sie von ihrem Abteilungsleiter am 2. Juni 1981 in den Abendstunden telefonisch unterrichtet worden sei, daß die Geschäftsleitung den Urlaub nicht genehmigt habe.

Am 19. Mai 1981 war bei der Beklagten erstmals ein aus fünf Mitgliedern bestehender Betriebsrat gewählt worden. Die Beklagte hat vor der Kündigung diesen Betriebsrat, dessen konstituierende Sitzung am 10. Juni 1981 stattfand, nicht angehört.

Mit ihrer am 16. Juni 1981 erhobenen Klage wendet sich die Klägerin gegen diese KÜndigung, die sie wegen Nichtanhörung des Betriebsrats und wegen Fehlens eines wichtigen Grundes für rechtsunwirksam hält. Der Abteilungsleiter habe mit ihr am 2. Juni 1981 schon deshalb nicht telefoniert, weil sie an diesem Tag zwischen 17.00 und 23.00 Uhr nicht zu Hause gewesen sei.

Die Klägerin hat beantragt festzustellen, daß ihr Arbeitsverhältnis mit der Beklagten durch die fristlose Kündigung vom 9. Juni 1981 nicht aufgelöst worden ist, sondern über diesen Zeitpunkt hinaus fortbesteht. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht.

I. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Wirksamkeit der Kündigung gegenüber der Klägerin nicht daran scheitert, daß die Beklagte den Betriebsrat nicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG zu der von ihr beabsichtigten und erklärten Kündigung angehört hat.

1. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Dies setzt voraus, daß im Betrieb ein bereits handlungsfähiger Betriebsrat existiert. Damit besteht eine Anhörungspflicht erst dann, wenn die Amtszeit des Betriebsrats begonnen und der Betriebsrat sich gemäß § 29 Abs. 1 BetrVG konstituiert, d.h. seinen Vorsitzenden und dessen Stellvertreter nach § 26 BetrVG gewählt hat.

2. Mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses beginnt die Amtszeit des Betriebsrats, sofern zu diesem Zeitpunkt noch kein Betriebsrat besteht (§ 21 Satz 2 BetrVG). Da im Betrieb der Beklagten erstmals ein Betriebsrat gewählt worden ist, hängt der Beginn der Amtszeit nur von der Bekanntgabe des Wahlergebnisses ab. Nach § 19 Satz 1, § 3 Abs. 4 WO geschieht dies durch Aushang an einer oder mehreren geeigneten, den Wahlberechtigten zugänglichen Stellen im Betrieb, sobald die Namen der Betriebsratsmitglieder endgültig feststehen.

Das Landesarbeitsgericht hat nur festgestellt, daß die Betriebsratswahl am 19. Mai 1981 stattgefunden hat. Feststellungen über die Bekanntgabe des Wahlergebnisses fehlen. Es ist jedoch davon auszugehen, daß das Wahlergebnis jedenfalls vor der Kündigung der Beklagten am 9. Juni 1981 bekanntgegeben worden ist. Die Klägerin hat vorgetragen, das Ergebnis der Wahl sei noch vor Ausspruch der Kündigung durch Aushang am Schwarzen Brett bekanntgegeben worden und hat hierfür ein Betriebsratsmitglied als Zeugen benannt. Der Inhaber der Beklagten hat hierzu lediglich erklärt, ihm sei das Wahlergebnis erst am 12. Juni 1981 bekanntgegeben worden. Damit hat er seiner prozessualen Pflicht nach § 138 Abs. 1 und 2 ZPO nicht genügt, sich über die vom Gegner behaupteten Tatsachen vollständig zu erklären. Zwar hat der Wahlvorstand dem Arbeitgeber nach § 18 Abs. 3 Satz 2 BetrVG auch eine Abschrift der Wahlniederschrift zu übersenden. Dies begründet eine von der Bekanntgabe des Wahlergebnisses unabhängige (weitere) Verpflichtung des Wahlvorstandes. Der Inhaber der Beklagten hat damit die Bekanntgabe des Wahlergebnisses selbst nicht ausdrücklich bestritten, so daß der Vortrag der Klägerin insoweit als zugestanden anzusehen ist (§ 138 Abs. 3 ZPO).

3. a) Im Zeitpunkt der Kündigung hatte sich der Betriebsrat noch nicht konstituiert. Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG hat der Wahlvorstand die Mitglieder des Betriebsrats zu der nach § 26 Abs. 1 und 2 BetrVG vorgeschriebenen Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters einzuberufen. Die konstituierende Sitzung des Betriebsrats hat erst am 10. Juni 1981, also nach Erklärung der Kündigung durch die Beklagte stattgefunden.

Aus welchem Grunde diese Sitzung erst zu diesem Termin und nicht wie gesetzlich vorgeschrieben, früher anberaumt worden ist, bedarf keiner Erörterung. Vorschriften darüber, wie zu verfahren ist, wenn der Wahlvorstand seiner Pflicht nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nicht oder nicht rechtzeitig nachkommt, enthält das BetrVG nicht (vgl. dazu unten c). Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits braucht der Senat nicht der Frage nachzugehen, ob auch bei einer Verletzung dieser zusätzlichen Pflicht des Wahlvorstands neben der Vorbereitung und Durchführung der Wahl nach § 18 Abs. 1 BetrVG zu verfahren ist, da hier unstreitig der Wahlvorstand zur konstituierenden Sitzung des Betriebsrats geladen hat und Rechte aus der Verspätung nicht hergeleitet worden sind.

b) Dennoch kommt eine Anhörungspflicht der Beklagten gegenüber diesem Betriebsrat nicht in Betracht, weil er sich im Zeitpunkt der Kündigungserklärung gegenüber der Klägerin noch nicht konstituiert hatte, also die nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vom Wahlvorstand einzuberufende Sitzung sowie die dort nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vorzunehmende Wahl des Vorsitzenden und dessen Stellvertreters noch nicht stattgefunden hatten.

Diese Handlungen sind Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Begründung der Handlungsfähigkeit des Betriebsrats nach Beginn seiner Amtszeit. Erst mit der Wahl nach § 26 BetrVG wird die Amtsausübungsbefugnis des Betriebsrats begründet.

aa) Der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 28. September 1983 - 7 AZR 266/82 -, zur Veröffentlichung bestimmt) "neigt zu der Ansicht, nach der der Betriebsrat auch ohne Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters funktionsfähig" sei "und damit wirksame Beschlüsse fassen" könne. "Die Gegenmeinung" verkenne, "daß die konstituierende Sitzung nur ein interner Vorgang der Geschäftsführung" sei (vgl. zum BetrVG 1952 BAG Beschluß vom 21. Oktober 1969 - 1 ABR 8/69 -, AP Nr. 10 zu § 3 BetrVG). Dieser Erwägung folgt der erkennende Senat nicht. Mit dieser Sitzung werden nicht Geschäfte des Betriebsrats geführt, sondern durch die Konstituierung des Betriebsrats dessen Geschäftsführung erst ermöglicht und Grundlagen für die weitere Geschäftsführung gelegt (vgl. BAG 28, 219, 222 f.).

bb) Entgegen der Ansicht des Siebten Senats (aa0) hat der Arbeitgeber vor der Konstituierung des Betriebsrats auch nicht die Möglichkeit, "allen Betriebsratsmitgliedern gegenüber betriebsverfassungsrechtlich relevante Erklärungen abzugeben". Nach § 102 BetrVG ist keine Anhörung aller Betriebsratsmitglieder vorgesehen, sondern die Anhörung des Betriebsrats. Der Betriebsrat kann nur handeln durch seinen Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter aufgrund von Beschlüssen, die der Betriebsrat unter dem Vorsitz des Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter gefaßt hat (§ 26 Abs. 3 BetrVG). Dies ist vor der ordnungsgemäßen Wahl des Vorsitzenden in der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats ausgeschlossen. Abgesehen davon führt die Meinung, daß "allen Betriebsratsmitgliedern gegenüber" Erklärungen abgegeben werden können, zu unüberwindbaren rechtlichen und praktischen Problemen. Weder kann ein Arbeitgeber wissen, gegenüber welchen Personen er konkret mit Rücksicht auf mögliche Verhinderungen Erklärungen abgeben soll, noch ist sicherzustellen, daß diese Personen "betriebsverfassungsrechtlich relevante Erklärungen" entgegennehmen oder gar abgeben können. Wie ein Arbeitgeber schließlich die "gewissen Erschwernisse bei der Einleitung eines Beteiligungsverfahrens" überwinden soll, die auch nach Auffassung des Siebten Senats (aa0) mit dieser Ansicht verbunden sind, und worin sie bestehen, wird nicht erläutert.

cc) Der Betriebsrat kann entgegen der Ansicht des Siebten Senats (aa0) auch nicht unabhängig von seiner Konstituierung "in seiner Gesamtheit selbst handelnd auftreten". Ein Betriebsrat kann nur tätig werden durch Beschlüsse, die er in einer ordnungsgemäß einberufenen Sitzung (§ 29 Abs. 2 BetrVG) unter Beachtung der in § 33 BetrVG genannten Voraussetzungen faßt. Um eine Sitzung des Betriebsrats handelt es sich nur, wenn die Mitglieder dieses Organs sich unter der Leitung des Vorsitzenden oder dessen Stellvertreters oder eines anderen Mitglieds entsprechend der Geschäftsordnung (§ 36 BetrVG) nach entsprechender ordnungsgemäßer Einberufung zusammenfinden, um gemeinsam zu beraten und ggf. zu beschließen (vgl. Beschluß des Senats vom 19. Januar 1984 - 6 ABR 19/83 -, zur Veröffentlichung bestimmt, zu II 2 der Gründe). Eine Sitzung des Betriebsrats vor der Konstituierung ist nicht möglich, weil es an sämtlichen hierfür notwendigen betriebsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen fehlt. Damit ist auch ein Handeln des Betriebsrats "in seiner Gesamtheit" mit betriebsverfassungsrechtlichen Wirkungen vor der Konstituierung ausgeschlossen. Ein Zusammentreffen der Mitglieder des Betriebsrats wäre demnach keine Sitzung des Betriebsrats, sondern allenfalls ein nach dem Betriebsverfassungsgesetz unbeachtliches Zusammentreffen von Betriebsratsmitgliedern, das die Anhörungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht auslösen kann.

dd) Ist danach dieser Ansicht nicht zu folgen, erweist sich zugleich die damit verbundene Meinung im Schrifttum als unzutreffend, der Arbeitgeber könne (vor Konstituierung) Verhandlungen mit einem Betriebsrat nur ablehnen, wenn dies für ihn unzumutbar sei (GK-Wiese, BetrVG, 2. Bearb. Oktober 1983, § 26 Rz 6, 64; ihm folgend Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, BetrVG, 2. Aufl., § 26 Rz 2). Zugleich erledigt sich damit auch die Gegenauffassung, daß der Arbeitgeber vor der Konstituierung nicht mit dem Betriebsrat zu verhandeln brauche (Fitting/Auffarth/-Kaiser, BetrVG, 14. Aufl., § 29 Rz 12; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 1, teilweise anders § 29 Rz 10, vgl. auch Vorbem. zu § 74 Rz 6; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 4; Kammann/Hess/Schlochauer, BetrVG, 2. Aufl., § 29 Rz 10). Ein Arbeitgeber kann mit einem Betriebsrat, der noch nicht handlungsfähig ist, also keine Amtsausübungsbefugnis hat, nicht verhandeln, kann ihn damit folglich auch nicht rechtswirksam zu einer Kündigung anhören.

c) Eine Anhörungspflicht der Beklagten folgt schließlich auch nicht aus einem Selbstversammlungsrecht des Betriebsrats, von der z.B. Hässler als selbstverständlich ausgeht (Hässler, Die Geschäftsführung des Betriebsrates, 5. Aufl., S. 9; ebenso Galperin/Löwisch, aa0, § 29 Rz 9; Fitting/Auffarth/Kaiser, aa0, § 29 Rz 8; Dietz/Richardi, aa0, § 29 Rz 8; GK-Wiese, BetrVG, aa0, Rz 10; Kammann/Hess/Schlochauer, aa0, Rz 3 jeweils mit weiteren Nachweisen). Ein Selbstversammlungsrecht des Betriebsrats ist jedenfalls vor der Konstituierung betriebsverfassungsrechtlich ausgeschlossen.

Das Betriebsverfassungsgesetz hat die Einberufung der Mitglieder des Betriebsrats zu der nach § 26 BetrVG vorgeschriebenen Wahl in § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG dem Wahlvorstand als Verpflichtung auferlegt. Dies ist eine Sonderregelung gegenüber Bestimmungen im parlamentarischen Recht oder im bürgerlichen Verbandsrecht. Ist aber der Wahlvorstand nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG verpflichtet, die Mitglieder des Betriebsrats einzuberufen, kann es daneben keine Befugnis zur Selbstversammlung geben. Soweit im Schrifttum (vgl. z.B. Dietz/Richardi, aa0, § 29 Rz 8 mit weiteren Nachweisen; Fitting/Auffarth/Kaiser, aa0, § 29 Rz 8, 9) Überlegungen angestellt werden, wie zu verfahren sei, wenn der Wahlvorstand diese Verpflichtung nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt, bedarf es hierzu keiner abschließenden Beurteilung durch den Senat, da dies nicht Gegenstand des Rechtsstreits ist.

Zwar erstreckt sich die Regelung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nur auf die Folgen von Pflichtverletzungen des Wahlvorstands bei der Einleitung und Durchführung der Wahl sowie bei der Feststellung des Wahlergebnisses. Aus dem Fehlen einer Regelung, wie bei Verletzung der Pflicht nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG zu verfahren ist, kann aber nicht geschlossen werden, daß damit notwendig ein solcher Verstoß sanktionslos bleiben müßte und deshalb von einem ebenfalls im Gesetz nicht geregelten Selbstversammlungsrecht des Betriebsrats auszugehen wäre, dem im übrigen im Widerspruch hierzu zu Recht allgemein von den gleichen Autoren gerade jede Handlungsfähigkeit abgesprochen wird (vgl. z.B. Dietz/Richardi, aa0, § 26 Rz 1, § 29 Rz 10; Fitting/-Auffarth/Kaiser, aa0, § 26 Rz 8, § 29 Rz 12 jeweils mit weiteren Nachweisen), sondern es ist ggf. zu prüfen, ob § 18 Abs. 1 Satz 2 BetrVG auch auf eine solche Pflichtverletzung entsprechend angewandt werden muß.

Eine Selbstversammlung von Betriebsratsmitgliedern wäre im übrigen für alle Beteiligten auch deshalb unverbindlich und damit rechtlich unwirksam, weil es keine Verpflichtung von Betriebsratsmitgliedern gibt, einer Einberufung durch andere Personen als dem Wahlvorstand zu folgen.

4. Die Beklagte war auch nicht verpflichtet, bis zur Konstituierung des Betriebsrats zu warten, um dann zunächst vor Ausspruch der Kündigung den Betriebsrat nach § 102 Abs. 1 BetrVG anzuhören.

Der Siebte Senat (aa0) hat hierzu angenommen, daß "nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG), der auch bei der Durchführung von Beteiligungsverfahren nach §§ 102, 103 BetrVG zu beachten" sei, für den Arbeitgeber die Verpflichtung bestehe, mit der Einleitung des Anhörungsverfahrens bis zur Wahl des Vorsitzenden des Betriebsrats zu warten (vgl. im Ergebnis ebenso KR-Etzel, 2. Aufl., § 102 BetrVG, Rz 24 ff., der allgemein auf Zumutbarkeitserwägungen abstellt).

Eine solche Pflicht würde jedenfalls voraussetzen, daß eine Anhörungspflicht nach § 102 BetrVG besteht. Das trifft jedenfalls hier nicht zu. Aus § 2 Abs. 1 BetrVG kann nicht unabhängig vom Bestehen konkreter betriebsverfassungsrechtlicher Rechte unmittelbar das Entstehen von Rechtspflichten des Arbeitgebers oder des Betriebsrats hergeleitet werden. Durch diese Bestimmung (vgl. außerdem §§ 74, 76, 78 und 79 BetrVG) wird lediglich die Art der Ausübung bestehender Rechte betroffen. Darauf hat der Senat schon mehrfach hingewiesen (vgl. z.B. BAG 31, 93, 102; 42, 259, 272; vgl. ebenso Schlochauer, Arbeitsrecht der Gegenwart, Band 20, S. 61, 74 mit Nachweisen). Scheidet damit eine Wartepflicht des Arbeitgebers vor Entstehen der Pflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG zur Ermöglichung des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG aus, kann es auch nicht darauf ankommen, ob der Arbeitgeber Gefahr läuft, im Hinblick auf die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB das Kündigungsrecht aus Fristgründen zu verlieren. Tatsachen dafür, daß die Beklagte etwa nur mit Rücksicht auf die am nächsten Tag stattfindende Konstituierung des Betriebsrats bereits am Vortag gekündigt habe, um das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG zu vermeiden, sind vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und auch von der Klägerin nicht geltend gemacht worden.

5. Die Befürchtungen der Revision, daß trotz Wahl eines Betriebsrats damit Unterbrechungen der betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligung unvermeidlich seien, sind unbegründet.

a) Hier war im Betrieb der Beklagten erstmals ein Betriebsrat gewählt worden, so daß eine Unterbrechung der betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligung schon aus diesem Grunde nicht in Betracht kommt. Die im Verhältnis zur Betriebsratswahl am 19. Mai 1981 verspätete Wahl des Vorsitzenden am 10. Juni 1981 beruht allein auf nicht näher festgestellten, internen Gründen, die vom Wahlvorstand oder der Belegschaft beeinflußbar waren. Zu Recht hat der Erste Senat (BAG 38, 284, 287) darauf abgestellt, daß es allein Sache der Belegschaft ist, dafür zu sorgen, daß ein Betriebsrat gebildet wird, durch den sie ihre betriebsverfassungsrechtlichen Rechte gegenüber dem Arbeitgeber wahrnehmen kann. Tut sie dies nicht oder nicht rechtzeitig, so muß sie die daraus folgenden betriebsverfassungsrechtlichen Nachteile hinnehmen.

b) Ist bereits ein nach § 13 Abs. 1 BetrVG gewählter Betriebsrat im Betrieb vorhanden, kann die Amtsausübungsbefugnis des neugewählten Betriebsrats sofort mit Beginn der Amtszeit durch rechtzeitige Wahl und dadurch begründet werden, daß die konstituierende Sitzung nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses, aber noch vor Beginn der Amtszeit durchgeführt wird (vgl. hierzu Dietz/Richardi, aa0, § 29 Rz 6; Fitting/Auffarth/Kaiser, aa0, § 29 Rz 10; Galperin/Löwisch, aa0, § 29 Rz 4; Gnade/Kehrmann/-Schneider/Blanke, aa0, § 29 Rz 2; Kammann/Hess/Schlochauer, aa0, § 29 Rz 10).

c) War der Betriebsrat nach § 13 Abs. 2 und 3 BetrVG außerhalb der regelmäßigen Betriebsratswahlen gewählt, so hängt die Zeitdauer zwischen Amtszeitbeginn und Konstituierung für den danach gewählten Betriebsrat (vgl. dazu § 21 BetrVG) allein vom Wahlvorstand ab. Die Wochenfrist nach § 29 Abs. 1 BetrVG bedeutet nicht, daß nicht etwa zugleich mit Bekanntgabe des Wahlergebnisses kurzfristig auch zur Wahl nach § 26 BetrVG geladen werden könnte. Fristen hierfür bestehen nicht (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Im übrigen führt der bisherige Betriebsrat in den Fällen des § 13 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BetrVG die Geschäfte bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses des neu gewählten Betriebsrats weiter (§ 22 BetrVG).

II. Der erkennende Senat ist gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden, weil das Landesarbeitsgericht nicht alle für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen Tatsachen festgestellt hat und es auch an einer umfassenden Interessenabwägung hat fehlen lassen. Die hiergegen von der Revision erhoben Rügen haben Erfolg.

1. Die Anwendung von § 626 Abs. 1 BGB durch das Landesarbeitsgericht kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff des wichtigen Grundes verkannt ist. Dabei ist einmal darauf abzustellen, ob der Sachverhalt unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalls an sich einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung abgeben kann und das Landesarbeitsgericht außerdem abgewogen hat, ob dem Kündigenden unzumutbar gewesen ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen (ständige Rechtsprechung des BAG seit BAG 2, 175, 182; 9, 263; BAG Urteile vom 26. August 1976 - 2 AZR 377/75 -, AP Nr. 68 zu § 626 BGB und vom 9. Dezember 1982 - 2 AZR 620/80 -, zur Veröffentlichung bestimmt; vgl. auch KR-Hillebrecht, 2. Aufl., § 626 BGB Rz 285). Auch unter Beachtung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs kann die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts keinen Bestand haben.

2. Das Landesarbeitsgericht hat aufgrund einer unzutreffenden Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen S versäumt, die gegenbeweislich benannte Zeugin der Klägerin, Ingrid V, darüber zu vernehmen, daß sie am 2. Juni 1981 ab 17.00 Uhr nicht zu Hause gewesen sei. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der im Anschluß an die Vernehmung des Zeugen S im Termin vom 30. Juli 1982 gestellte Beweisantrag der Klägerin als verspätet i.S. von § 67 Abs. 2 Satz 2 ArbGG hätte zurückgewiesen werden können, denn darauf hat das Landesarbeitsgericht die Ablehnung des Beweisantrags nicht gestützt. Die Aussage des Zeugen S ,er habe am "Abend" des 2. Juni 1981 die Klägerin über die Ablehnung des Urlaubsantrags informiert, läßt jedenfalls die Schlußfolgerung des Landesarbeitsgerichts nicht zu, dieser Anruf hätte zeitlich auch vor 17.00 Uhr erfolgen können. Mit dem Wort "Abend" wird sprachlich die Tageszeit um den Eintritt der Dämmerung oder die Zeit vom Arbeitsende bis zum Beginn der Nachtruhe bezeichnet. Der Zeitraum vor 17.00 Uhr kann - zumal im Monat Juni - nicht ohne weiteres dem Abend zugerechnet werden. Es hätte deshalb vor einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts einer Präzisierung der Aussage des Zeugen S und ggf. weiterer Beweiserhebungen hierüber bedurft. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts beruht deshalb auf einer unrichtigen Beurteilung von Tatsachen und einer Verletzung seiner Aufklärungspflicht. Soweit die Revision weiter rügt, das Landesarbeitsgericht hätte die Angestellte B zum Beweis dafür als Zeugin hören müssen, daß die Klägerin schon Wochen vor Antritt des Urlaubs den Urlaub vom Zeugen S genehmigt bekam, übersieht sie, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin im Termin vom 30. Juni 1982 vor dem Landesarbeitsgericht auf die Vernehmung dieser Zeugin verzichtet hat.

3. Das Landesarbeitsgericht hat keine nach § 626 BGB erforderliche Interessenabwägung vorgenommen. Zwar braucht sich der Tatsachenrichter nicht mit jeder Einzelheit, die an sich für die Interessenabwägung erheblich ist, ausdrücklich zu befassen (vgl. KR-Hillebrecht, aa0, § 626 BGB Rz 285). Zumindest müssen aber die Interessen beider Vertragsparteien gegeneinander abgewogen werden, bevor darüber zu befinden ist, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist oder nicht (KR-Hillebrecht, aa0, Rz 184). Eine derartige Interessenabwägung fehlt. Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Entscheidung nur auf den Vorfall abgestellt, den die Beklagte zum Anlaß der Kündigung genommen hat. Die Interessenlage der Klägerin hat es in seine Würdigung erkennbar nicht einbezogen. So hätte die Tatsache, daß die Klägerin zu Fernsehaufnahmen eingeladen worden war, ihr frühzeitiges Bemühen, dazu Urlaub zu erlangen, die Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, ihr bisheriges Leistungsverhalten und die evtl. Wiederholungsgefahr, sowie der Zeitraum der Abwesenheit vom Arbeitsplatz bei der Interessenabwägung Berücksichtigung finden müssen (vgl. KR-Hillebrecht, aa0, Rz 215, 336; vgl. auch zuletzt LAG Frankfurt, Urteil vom 22. Dezember 1983 - 12 Sa 542/83 -, DB 1984, 1355). Das Landesarbeitsgericht hat überdies - worauf die Revision zu Recht hinweist - übersehen, daß die außerordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers nur als unausweichlich letzte Maßnahme zulässig ist (BAG 30, 309, 314). Es hätte deshalb prüfen müssen, ob dem Arbeitgeber nicht vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses, eine Abmahnung, eine Versetzung oder eine Weiterbeschäftigung der Klägerin zu anderen Arbeitsbedingungen zumutbar war.

Um dem Landesarbeitsgericht Gelegenheit zur Feststellung dieser Tatsachen zu geben, war der Rechtsstreit, auch zur Entscheidung über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Dr. Auffarth Dr. Jobs Dr. Leinemann

Dr. Kukies Lehmann

 

Fundstellen

BAGE 46, 282-292 (LT1-2)

BAGE, 282

BB 1985, 1066-1067 (LT1-2)

DB 1985, 1085-1087 (LT1-2)

ARST 1985, 114-115 (LT1-2)

BlStSozArbR 1985, 241-242 (LT1-2)

JR 1986, 88

NZA 1985, 566-568 (LT1-2)

SAE 1986, 117-119 (LT1-2)

AP § 102 BetrVG 1972 (LT1-2), Nr 36

AR-Blattei, Betriebsverfassung XIVC Entsch 93 (LT1-2)

AR-Blattei, ES 530.14.3 Nr 93

EzA § 102 BetrVG 1972, Nr 59 (LT1-2)

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