Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch eines Arbeiters gegen seinen Arbeitgeber auf Lohnfortzahlung nach dem Lohnfortzahlungsgesetz besteht auch dann, wenn der Arbeiter wegen eines von der Unfallversicherung anerkannten Arbeitsunfalles arbeitsunfähig erkrankt ist.

 

Normenkette

LohnFG § 1 Abs. 1; RVO § 560 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 23.02.1972; Aktenzeichen 8 Sa 190/71)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 1972 – 8 Sa 190/71 – aufgehoben.
  • Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

    Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Beklagte betreibt in L… eine Eisen- und Metallgießerei. Bei ihr ist gegen einen Stundenlohn von 6,35 DM der Gießereiarbeiter W… F… beschäftigt, der auch eine eigene Landwirtschaft mit 1.9 ha Ackerland 2,36 ha wiesen, 5 Stück Großvieh und 3 Schweinen bewirtschaftet. F… richtet seine Arbeitszeit bei der Beklagten nach dem Arbeitsanfall in der eigenen Landwirtschaft ein; manchmal arbeitet er nur halbtags.

Am 1. Juni 1971 stürzte F… zwischen 19.00 und 20.00 Uhr beim Kirschenpflücken von der Leiter und verletzte sich die Wirbelsäule. Er war deswegen vom 2. Juni 1971 bis 15. August 1971 arbeitsunfähig krank. Da sich die Beklagte weigerte, F… den Lohn für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit fortzuzahlen, zahlte die Krankenkasse für diese Zeit 1.124,70 DM Verletztengeld an ihn. Die Klägerin erstattete der Krankenkasse diesen Betrag und verlangt nunmehr aufgrund der Abtretungserklärung des F… vom 12. August 1971 mit der vorliegenden Klage jetzt noch 873,66 DM von der Beklagten, nämlich den Betrag, den F… in den ersten sechs Wochen seiner Arbeitsunfähigkeit – hätte er gearbeitet – dort als Lohn erhalten hätte.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dem Anspruch F… auf Lohnfortzahlung stehe nicht entgegen daß sich der Unfall bei einer Tätigkeit in seiner Landwirtschaft ereignet habe, weil Zielsetzung des Lohnfortzahlungsgesetzes sei, dem Arbeiter ohne Rücksicht auf den Zusammenhang eines Unfallgeschehens mit dem Arbeitsverhältnis seinen bisherigen Lebensstandard zu sichern.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und dazu die Meinung vertreten, daß es allein darum gehe, wer den Arbeitnehmer im vorliegenden Falle wirtschaftlich sicherzustellen habe. Da sich F… die Verletzungen bei Ausübung der von ihm selbständig betriebenen Landwirtschaft zugezogen habe, könne dies nur die Klägerin sein, die auch die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung erhalte. Es sei ungerechtfertigt, die Beklagte in diesem Falle mit Lohnfortzahlungsansprüchen zu belasten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und dazu u.a. ausgeführt: Das Bundesarbeitsgericht habe Lohnfortzahlungsansprüche dann bejaht, wenn es sich bei der nebenberuflichen selbständigen Tätigkeit lediglich um eine “schlichte Nebentätigkeit” handle. Davon könne im vorliegenden Falle nicht gesprochen werden, weil bei der Größenordnung der hier in Rede stehenden Landwirtschaft F… diese bereits gewerbliche, unternehmerische Züge trage. Aus den gesamten Umständen, wie sie sich aus dem Arbeitsverhältnis zwischen F… und der Beklagten ergeben, müsse gefolgert werden, daß F… seine Landwirtschaft sehr intensiv und keineswegs nur als Nebenerwerb betreibe. Es sei ihm gestattet worden, je nach Arbeitsanfall in der eigenen Landwirtschaft der Arbeit im Betrieb fernzubleiben. Von dieser Möglichkeit habe F… häufig Gebrauch gemacht. Die unselbständige Tätigkeit als Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten und die selbständige Tätigkeit F… als Landwirt müßten daher zumindest als gleichrangig angesehen werden. Auch das Einkommen F… aus seiner Landwirtschaft könne gegenüber seinem Einkommen als Arbeitnehmer nicht als gering veranschlagt werden. Es könne von einem monatlichen Einkommen aus der Landwirtschaft von 300,– bis 350,– DM ausgegangen werden, das sei etwa die Hälfte der Einkünfte F… aus unselbständiger Arbeit. F… sei daher auf das Arbeitseinkommen bei der Beklagten nur bedingt angewiesen. Das Verlangen auf Lohnfortzahlung widerspreche deshalb dem Grundsatz von Treu und Glauben und sei rechtsmißbräuchlich, zumal der Lebensstandard des Abtretenden während seiner Arbeitsunfähigkeit durch das ihm gewährte und den Lohnfortzahlungsanspruch sogar übersteigende Verletztengeld zu keiner Zeit gefährdet gewesen sei.

Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin, die unter Aufrechterhaltung ihres bisherigen Rechtsstandpunktes die Verletzung materiellen und formellen Rechts rügt, ihren Anspruch weiter. Die Beklagte beantragt demgegenüber die Zurückweisung der Revision. Sie hält an ihrer bisherigen Rechtsauffassung fest und macht sich die Erwägungen der Vorinstanz zu eigen.

 

Entscheidungsgründe

Das angefochtene Urteil hält einer revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Das Landesarbeitsgericht geht bei seiner Rechtsfindung davon aus, F… habe sich als Rechtsvorgänger der Klägerin die Unfallverletzung, die zu seiner Arbeitsunfähigkeit geführt habe, bei Ausübung der von ihm selbständig betriebenen Landwirtschaft zugezogen, ohne dazu nähere tatsächliche Feststellungen zu treffen. Nur wenn dieser Ausgangspunkt als solcher zutreffend wäre, könnten die vom Landesarbeitsgericht angestellten Erwägungen für die Fallentscheidung überhaupt relevant werden, weil die Regelvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 LohnFG hier unstreitig sind. Zwar hat die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung den Unfall, den der Kläger am 1. Juni 1972 beim Kirschenpflücken erlitten hatte, als Arbeitsunfall anerkannt, das besagt aber nur, daß die Tätigkeit des Kirschenpflückens einer landwirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechts zugeordnet werden kann (§§ 776 Abs. 1 Nr. 1, 777 Nr. 1 RVO), nicht dagegen, ob F… den Kirschenanbau (oder Obstanbau schlechthin) in einem erwerbsmäßigen Umfang betreibt. Hat … nämlich nur einige wenige Obstbäume in gartenmäßiger Anbauweise, deren Ernteertrag er überwiegend für den Eigenverbrauch nutzt, dann ist nicht einzusehen, ihn bei Prüfung der Voraussetzungen für die Ansprüche aus dem Lohnfortzahlungsgesetz nur deshalb anders als jeden sonstigen Arbeiter mit eigenem Obstgarten zu behandeln, weil er Nebenerwerbslandwirt ist. Das Landesarbeitsgericht wird deshalb zunächst aufzuklären haben, ob der Rechtsvorgänger der Klägerin überhaupt erwerbsmäßigen Obstanbau betreibt.

2. Nicht frei von Rechtsirrtum ist die Erwägung des Landesarbeitsgerichts, das Verlangen auf Lohnfortzahlung sei auch deshalb rechtsmißbräuchlich, weil der Lebensstandard F… während seiner Arbeitsunfähigkeit durch das von der Klägerin gewährte und den Lohnfortzahlungsanspruch sogar übersteigende Verletztengeld nicht gefährdet gewesen sei. So betrachtet läge auch im Falle der arbeitsunfähigen Erkrankung eines Arbeiters außerhalb eines Arbeitsunfalles keine Gefährdung des Lebensstandards während der Erkrankung vor, denn in einem solchen Falle wäre bei Weigerung des Arbeitgebers zur Lohnfortzahlung nach § 165 Abs. 1 Nr. 1 RVO die Krankenkasse verpflichtet, an den Arbeiter Krankengeld zu bezahlen. Nicht zuletzt deshalb enthält § 182 Abs. 7 RVO eine Regelung über den gesetzlichen Forderungsübergang von Lohnansprüchen des Arbeiters an die Krankenkasse, wenn die Kasse bei und trotz bestehendem Lohnfortzahlungsanspruch des Arbeiters durch Krankengeldgewährung an diesen in Vorleistung getreten ist. Die von der Beklagten in diesem Zusammenhang gestellte Frage, wer bei einer auf einem Arbeitsunfall beruhenden Arbeitsunfähigkeit den erkrankten Arbeitnehmer sicherzustellen habe, beantwortet § 560 Abs. 1 RVO. Danach erhält der Verletzte Verletztengeld aus der Unfallversicherung (nur), solange er infolge Arbeitsunfall arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist und soweit er Arbeitsentgelt nicht erhält, also keinen Anspruch (mehr) auf Lohnzahlung hat.

3. Selbst wenn sich F… aber die zur Arbeitsunfähigkeit führende Verletzung bei Verrichtung von Tätigkeiten in seiner Landwirtschaft zugezogen hätte, entfiele nicht schon deshalb die Lohnfortzahlungsverpflichtung der Beklagten. Allerdings teilt der Senat nicht die Meinung der Klägerin. Art und Umfang der Nebentätigkeit eines Arbeiters seien auf den Lohnfortzahlungsanspruch im Krankheitsfalle in jedem Fall ohne Einfluß, weil der Gesetzgeber – wie sich aus § 1 Abs. 2 LohnFG ergebe – nur auf den zeitlichen Umfang der Haupttätigkeit, dagegen nicht auf Art und Umfang der Nebentätigkeit abstelle. Der Senat sieht vielmehr auch anläßlich der Unterbreitung des vorliegenden Falles keinen Anlaß, von seiner bisherigen, bereits in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung abzuweichen, wonach zwar in einem Arbeitsverhältnis stehende Nebenerwerbslandwirte grundsätzlich auch dann Anspruch auf Lohnfortzahlung haben, wenn die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung ursächlich auf eine Tätigkeit in ihrer Nebenerwerbslandwirtschaft zurückzuführen ist (BAG demnächst AP Nr. 17, 19 und 22 zu § 1 LohnFG), das Verlangen aber nach den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben rechtsmißbräuchlich sein kann, wenn sie ihren Lebensunterhalt überwiegend durch selbständige Tätigkeit in der eigenen Landwirtschaft erzielen (BAG demnächst AP Nr. 19 zu § 1 LohnFG). Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat F… aus seiner Landwirtschaft etwa die Hälfte der Einkünfte aus der unselbständigen Arbeit (bei der Beklagten) erwirtschaftet. Danach würde sich auch der vorliegende Fall nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats in die Fälle einordnen lassen, in welchen jedenfalls mangels eines Überwiegens eines anderen Einkommens die Geltendmachung des Lohnfortzahlungsanspruchs nicht rechtsmißbräuchlich erscheint. Der Senat sieht sich allerdings außerstande, diese Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zur Grundlage einer eigenen abschließenden Entscheidung im Sinne des § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO zu machen, denn die Klägerin rügt berechtigt einen Verstoß gegen § 286 ZPO, weil das Landesarbeitsgericht bei diesen Feststellungen über die Einkommensverteilung unter Außerachtlassung einer umfassenden Würdigung des gesamten Sachverhalts lediglich eine oberflächliche Schätzung vorgenommen hat. So hat das Landesarbeitsgericht einerseits bei der Ermittlung des (mutmaßlichen) Einkommens aus der Milcherzeugung – wie von der Revision gerügt – die sog. “Betriebskosten” unberücksichtigt gelassen; zum anderen hat es aber auch nicht untersucht, worauf die Beklagte in der Revisionserwiderung zu Recht hinweist, ob und ggf. welche Einkünfte F… aus anderen Zweigen landwirtschaftlicher Betätigung erzielt. Das gilt nicht zuletzt auch für die Obstverwertung, falls F… einen auf Erwerb gerichteten Obst-, hier speziell Kirschenanbau, betreibt bzw. im entscheidungserheblichen Zeitpunkt betrieben haben sollte.

4. Eine eigene Entscheidung ist dem Senat aber auch deshalb verwehrt, weil das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen darüber getroffen hat, ob die Landwirtschaft auch noch von Angehörigen des F…, insbesondere von Ehefrau und erwachsenen Kindern, mit bewirtschaftet wird. Ist dies nämlich der Fall, dann können, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. Februar 1972 – 5 AZR 476/71 – (demnächst AP Nr. 19 zu § 1 LohnFG) dargelegt hat, die Erträge aus dieser Landwirtschaft nicht dem Arbeiter allein zugerechnet werden.

5. Das Landesarbeitsgericht wird deshalb nach Zurückverweisung vor einer erneuten Entscheidung des Rechtsstreits die tatsächlichen Feststellungen im Sinne der vorstehenden Ausführung ergänzen und nachholen müssen.

 

Unterschriften

Dr. Auffarth, Siara, Bichler, Dr. Döderlein, Schumacher

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1443211

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