Rz. 55

Der Einwand des Rechtsmissbrauchs wurde bis zur Entscheidung des BAG im Jahr 1982[1] immer im Zusammenhang mit der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers diskutiert: Hatte ein Arbeitnehmer keine bzw. nur geringe Arbeitsleistungen im Kalenderjahr erbracht, wurde sein Urlaubsverlangen als rechtsmissbräuchlich angesehen, weil ein Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Urlaub bestehe.[2] Nunmehr vertritt das BAG die Auffassung, nach dem Bundesurlaubsgesetz entstehe der Urlaubsanspruch unabhängig vom Umfang der Arbeitsleistung und sei lediglich an die Erfüllung der Wartezeit nach § 4 BUrlG und den Bestand eines Arbeitsverhältnisses geknüpft. Der Urlaub werde nicht durch frühere Arbeit verdient. Es gebe auch keine Pflicht zur Erholung für den Arbeitnehmer, um sich für künftige Arbeit zu kräftigen.[3]

 

Rz. 56

Möglich ist deshalb allein ein individueller Rechtsmissbrauch.[4] Hierfür genügt eine fehlende oder nur geringfügige Arbeitsleistung im Urlaubsjahr nicht. Es müssen zusätzliche Umstände hinzutreten, die das Vorgehen des Arbeitnehmers als treuwidrig erscheinen lassen.[5] Das BAG stellt dabei auf die Gesetzeshistorie ab: Nachdem der frühere Satz 2 des § 7 Abs. 4 BUrlG, welcher den Wegfall des Abgeltungsanspruchs bei Auflösungsverschulden des Arbeitnehmers vorsah, mit Wirkung vom 1.11.1974 gestrichen worden ist, kommt gegenüber einer geltend gemachten Urlaubsabgeltung nur in besonders krassen Ausnahmekonstellationen der Einwand unzulässiger Rechtsausübung überhaupt noch in Betracht. Nicht jegliche – und sei es grobe – Vertragsverletzung des Arbeitnehmers oder sein widersprüchliches Verhalten vermag den Urlaubsabgeltungsanspruch infrage zu stellen. Nur wenn zusätzliche Umstände hinzukommen, etwa die Verfolgung unlauterer Zwecke bzw. einer Schädigungsabsicht, oder wenn der Arbeitnehmer von vornherein unter Vereitelung des Urlaubsanspruchs allein den monetären Abgeltungsanspruch durchzusetzen beabsichtigt, mag an einen Anspruchsausschluss gedacht werden.[6]

Solche Fälle sind schwer vorstellbar. Insbesondere kann ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, den er von seinen Pflichten zur Erbringung der Arbeitsleistung im bestehenden Arbeitsverhältnis freigestellt hat – z. B. im Rahmen einer Kündigung bis zum Ablauf der möglicherweise sehr langen Kündigungsfrist oder weil Verdachtsmomente auftraten, deren Tatsachengehalt der Arbeitgeber zunächst "in Ruhe" überprüfen möchte – nicht entgegenhalten, dieser habe sich während der Zeit der Freistellung um Urlaubsgewährung bemühen müssen[7], und es sei nun rechtsmissbräuchlich, wenn der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder nach Beendigung der Freistellung Urlaubsabgeltung bzw. Gewährung von Urlaub verlange. Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, während der Zeit der Freistellung Urlaub zu beantragen. Dem Arbeitgeber ist vielmehr entgegenzuhalten, dass er bei einer Freistellung eines Arbeitnehmers klar erklären muss, dass hiermit eine Urlaubsgewährung verbunden ist.[8]

Dagegen kann es rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Arbeitnehmer Urlaubsabgeltungsansprüche geltend macht, nachdem der Arbeitgeber ihn freistellte, um Urlaub zu gewähren, dem Arbeitnehmer jedoch die Festlegung der konkreten Urlaubszeit innerhalb des Freistellungszeitraums selbst überließ. Dies kommt immer dann in Betracht, wenn der Freistellungszeitraum vom Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers nicht vollständig abgedeckt wird.[9]

 
Praxis-Beispiel

Ein Arbeitgeber kündigt einen Arbeitnehmer unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist mit Schreiben vom 3.2.2020 zum 31.5.2020. Im Kündigungsschreiben erklärt er des Weiteren: "Ich stelle Sie mit Ablauf des 15.2.2020 von der weiteren Arbeit unter Fortzahlung Ihrer Bezüge und unter Anrechnung noch offener Urlaubsansprüche frei." Dem Arbeitnehmer stehen insgesamt noch 15 Tage Urlaub zu. Er meint, dass der Arbeitgeber den Urlaub nach Beginn und Ende hätte festsetzen müssen. Da dies unterblieben sei, sei der Urlaubsanspruch nicht erfüllt worden und damit abzugelten.

Lösung

Der Arbeitnehmer übersieht, dass der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers auch dadurch erfüllen konnte, dass er dem Arbeitnehmer das Recht einräumte, die konkrete Lage des Urlaubs innerhalb eines bestimmten Zeitraums – hier: des Freistellungszeitraums vom 16.2. bis 31.5.2020 – selbst zu bestimmen.[10] Ist der Arbeitnehmer damit nicht einverstanden, weil er ein Annahmeverweigerungsrecht geltend macht[11], so hat er dies dem Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen. Unterbleibt eine solche Mitteilung, kann der Arbeitgeber davon ausgehen, der Arbeitnehmer lege die Urlaubszeit innerhalb der Kündigungsfrist selbst fest. Das spätere Urlaubsabgeltungsverlangen des Arbeitnehmers ist dann rechtsmissbräuchlich (§ 242 BGB) und deshalb nicht begründet.[12] Voraussetzung ist allerdings, dass die Freistellungserklärung des Arbeitgebers wirksam gewesen ist.[13]

Ausnahmsweise können berechtigte Interessen des Arbeitnehmers eine zeitliche Festlegung notwendig machen, z. B. wenn im Freistellung...

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