Transformation in der deutschen Automobilindustrie

Die deutsche Automobilindustrie steht in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Wie sind die Unternehmen darauf vorbereitet? Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologin Simone Kauffeld führte für das Wissenschaftsjournal PERSONALquarterly ein Interview mit Gunnar Kilian, Volkswagen AG, Dr. Ariane Reinhart, Continental AG, und Prof. Dr. Thomas Vietor vom Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik.

PERSONALquarterly: Als große Herausforderungen in der Wirtschaft werden in den kommenden Jahren unter anderem die Digitalisierung, die Dekarbonisierung und die Deglobalisierung beschrieben (IW-Studie; Demary, V./Matthes, J./Plünnecke, A./Schaefer, T. (2021): Gleichzeitig. Wie 4 Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern. Herausforderungen und Lösungen). Wo steht die Automobilindustrie in Bezug auf diese Herausforderungen?

Thomas Vietor: Die genannten Herausforderungen gelten natürlich für alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Die Mobilität von Personen und Gütern insgesamt hat dabei für die wirtschaftliche Entwicklung und die Lebensqualität des Einzelnen eine hohe Bedeutung und ist von den Herausforderungen gleichfalls betroffen. Die Automobilwirtschaft trägt zu einem wesentlichen Teil zur Wirtschaftskraft eines Landes bei. Sie versorgt Organisationen oder Personen mit Fahrzeugen und trägt damit wesentlich zur Mobilität bei. Die Individualmobilität wird in Zukunft neben dem ÖPNV weiterhin eine große Bedeutung haben.

Prof. Dr. Thomas Vietor

Zu den einzelnen Herausforderungen: Die Digitalisierung betrifft die Automobilindustrie in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird die Produktentwicklung und Produktion verstärkt digitalisiert, wobei hier bereits heute ein hohes Niveau der Digitalisierung erreicht ist. Zum anderen wird das Produkt Fahrzeug selbst immer digitaler mit immer mehr Funktionen, die per Software realisiert sind und in Zukunft die unterschiedlichen Stufen des autonomen Fahrens ermöglicht – vom assistierten Fahren bis hin zur Vollautomatisierung. Weiterhin erlaubt die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle, die teilweise bestehende Geschäftsmodelle verdrängen werden und damit neue Chancen bieten, aber auch Risiken durch den Wegfall etablierter Geschäftsmodelle.

Die Dekarbonisierung betrifft den Betrieb des Fahrzeugs, also den Energieverbrauch oder umgangssprachlich für Verbrennungsmotoren den Kraftstoffverbrauch, aber auch den Einsatz von Ressourcen wie Werkstoffen und Energie bei der Produktion des Fahrzeugs und der Verwertung, wenn das Fahrzeug außer Betrieb genommen wird. Hier wird in Zukunft verstärkt der gesamte Lebenszyklus eines Fahrzeugs betrachtet werden; man spricht dann auch von "Circular Economy". Dies wird die Automobilwirtschaft maßgeblich beeinflussen und durch die vorher bereits angesprochene Digitalisierung teilweise erst ermöglicht.

Ariane Reinhart: Die Studie, auf die Sie sich beziehen, sieht neben Digitalisierung, Dekarbonisierung und Deglobalisierung auch das Thema Demografie als eine der großen Herausforderungen für die Wirtschaft. Diese Einschätzung teile ich. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht in vier voneinander getrennten Silos denken. Denn insbesondere im Zusammenwirken der Themen ergeben sich Konflikte, aber auch interessante Chancen – beispielsweise Digitalisierung und Demografie oder etwas weiter gefasst Digitalisierung und Fachkräftemangel.

PERSONALquarterly: Welche Konflikte und Chancen sehen Sie im Zusammenspiel? Welche Auswirkungen sehen Sie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Ariane Reinhart: Das Wort Digitalisierung löst bei vielen Menschen erst einmal Ängste aus und wirft Fragen auf: Wird es meinen Beruf in fünf Jahren noch geben? Oder: Bin ich fit für die digitale Transformation? Diese Ängste müssen wir abbauen. Digitalisierung wird nicht dazu führen, dass es für den Menschen keine Arbeit mehr geben wird. Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, repetitive Tätigkeiten zu automatisieren und die kreativ schöpferische Kraft unserer Mitarbeitenden zu entfesseln. Damit dies gelingen kann, müssen wir heute damit anfangen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihrem aktuellen Kenntnisstand abzuholen, sie wieder ans Lernen heranzuführen und sie mit zielgerichteten Maßnahmen durch diese Transformation zu begleiten. Ähnliches gilt für die Dekarbonisierung. Uns muss klar sein, dass an jeder politischen Entscheidung Tausende Arbeitsplätze und Milliarden Euro an Wertschöpfung der Industrie hängen.

Deshalb fordern wir bei Continental ein zielgerichtetes Konzept für den Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland. Wenn wir unsere Klimaziele bis zum Jahr 2045 erreichen wollen, dann muss die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen für eine auf allen Ebenen nachhaltige und zugleich sozialverträgliche Transformation schaffen. Transformation können wir. Aber wir können keine Brüche. Die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, bedeutet folglich nicht nur die Beschleunigung der Transformation, sondern auch das Verhindern großer Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Ein ökonomisch ausgerichtetes Anreizsystem würde auf dem Weg zur Klimaneutralität helfen. Die Botschaft muss sein: Klimaneutralität lohnt sich auch wirtschaftlich!

Thomas Vietor: Sowohl die Digitalisierung als auch die Dekarbonisierung haben neben den technologischen Herausforderungen einen sehr großen Einfluss auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wesentliche Systeme und Baugruppen der Fahrzeuge werden sich ändern. Hier ist der teilweise Ersatz des Verbrennungsmotors durch den Elektromotor bei Weitem nicht die einzige technologische Änderung. Damit müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Qualifikationen erwerben, die Ausbildung muss sich ändern und alle Arbeitsbereiche werden sich erheblich verändern. Forschung und Ausbildung sind Schlüssel für die Transformation, und die Zusammen­arbeit der Wirtschaft mit den Universitäten und Hochschulen ist eine Stärke in Deutschland, die auch in der Transformation eine entscheidende Rolle einnehmen kann.

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PERSONALquarterly: Sind die großen OEMs und die Zulieferer in Deutschland schnell genug im Transformationsprozess unterwegs? In welchen Bereichen ist der Weg geebnet? Wo besteht Handlungsbedarf, wenn Sie zum Beispiel an die Elektrifizierung oder die Software im Fahrzeug oder die vielfältige Kooperations­­be­ziehungen denken?

Thomas Vietor: Die Transformation wurde in kleinen Schritten bereits vor Jahren eingeleitet. Das zeigt sich zum Beispiel in der Ausstattung von Fahrzeugen, aber auch bei der Sicherheit oder beim Komfort, wo sehr hohe Niveaus heute Standard sind. Die Fahrzeuge selbst, die Entwicklung der Fahrzeuge und die Fahrzeugproduktion hat auch in der Vergangenheit erhebliche Weiterentwicklungen durch und mithilfe der Digitalisierung erfahren. In anderen Bereichen, wie bei der Einführung alternativer Antriebe, wurde aber der Wandel durch die deutsche und europäische Automobilwirtschaft erst sehr spät eingeleitet. So führte die Elektromobilität lange Zeit ein Schattendasein. Dadurch ist in Europa generell ein Rückstand in der Elektromobilität und speziell in der Batterietechnologie entstanden. Durch erhebliche Anstrengungen der Automobilwirtschaft, aber auch durch öffentliche Förderung der Forschung gelingt es hier zunehmend, den Rückstand aufzuholen. Durch neue Marktteilnehmer und weitere technologische Entwicklungen entstehen aber auch immer wieder neue Herausforderungen. Der Weg der Veränderung ist weiterzugehen und die Entwicklung, zum Beispiel der Batterietechnologie, fortzusetzen. Die benötigten Produktionskapazitäten sind aufzubauen. Die Ansätze zur Bilanzierung aller Ressourcen, die für die Mobilität eingesetzt werden, müssen weiterentwickelt werden und dies bei der Produktion und dem Betrieb von Fahrzeugen durchgängig eingeführt werden.

Ariane Reinhart: Wir haben bei Continental bereits seit 2020 einen umfassenden Nachhaltigkeitsfahrplan. Und unser großes Ziel lautet: Bis spätestens 2050 wollen und werden wir ein komplett nachhaltiges Unternehmen sein; ein Unternehmen, das zu 100 Prozent auf Klimaneutralität setzt, das zu 100 Prozent emissionsfreie Mobilität und Industrie ermöglicht, das zu 100 Prozent zirkulär wirtschaftet und das sich auf zu 100 Prozent verantwortungsvolle Wertschöpfungsketten stützt. Dabei ist es unser Anspruch als Zulieferer, die Geschwindigkeit unserer Kunden mitzugehen und sie bei dieser Transformation zu unterstützen. Unsere eigene Produktion macht übrigens nur noch etwa 1 Prozent unseres CO2-Fußabdrucks aus, der Rest entfällt auf vor- und nachgelagerte Prozesse.

Dr. Ariane Reinhart, Continental

Die Nutzungsphase unserer Produkte verursacht aktuell noch über 80 Prozent des CO2-Fußabdrucks. Mit der wachsenden Zahl emissionsfreier Fahrzeuge wird dieser Anteil jedoch sukzessive sinken. Daher fokussieren wir uns aktuell auf den zweitgrößten Posten in unserer CO2-Bilanz: eingekaufte Waren. Dekarbonisierung funktioniert nur gemeinsam mit allen Partnern entlang der Wertschöpfungskette. 

Neben der Dekarbonisierung führt die Digitalisierung in der Automobilindustrie dazu, dass wir heute ganz andere Talente ansprechen und für unseren Konzern begeistern wollen. Unter unseren 193.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind bereits heute 17.000 Software- und IT-Experten, Tendenz steigend. Schon heute stehen wir vor der Herausforderung, Software-Ingenieure in ausreichender Anzahl und mit der richtigen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Deshalb haben wir, um dem wachsenden Bedarf an Software-Experten gerecht zu werden, bereits 2015 den neuen Ausbildungsberuf des mathematisch-technischen Software-Entwicklers geschaffen. 2019 haben wir mit der Gründung der Continental Software Academy eine Plattform entwickelt, auf der wir unsere eigenen Software-Experten aus- und ständig weiterbilden. Heute sind es bereits knapp 25.000 aktive Nutzerinnen und Nutzer, die zielgerichtet an über 500 Kursen teilnehmen können.

PERSONALquarterly: Was sind die zentralen Faktoren für eine erfolgreiche Transformation in der Automobilindustrie? Wo gibt es Handlungsfelder?

Gunnar Kilian: Die gelingende Transformation ist für mich auch eine Frage der Führung. Deshalb gehen wir in der Führungskräfteentwicklung mit speziellen Programmen neue Wege. Unser Senior-Management-Programm bspw. fokussiert sich auf das Thema "Transformation gestalten". Es teilt sich in zwei Module, welche von der HPI Academy Potsdam und der Business School HEC Paris durchgeführt werden. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind neben "Innovation" vor allem auch "Kundenzentrierung" und "neue Geschäftsmodelle". Damit wollen wir unseren oberen Managementkreis (Anm.: die Ebene unterhalb des Topmanagements) befähigen, das Business und dessen Transformation, neu denken zu können. Insbesondere wollen wir den Gedanken der Zusammenarbeit weiter fördern. So ist das Senior-Management-Programm als Konzernprogramm konzipiert worden, damit sich die neu ernannten Mitglieder des oberen Managementkreises der verschiedenen Marken kennenlernen und vernetzen. Denn wir können die Transformation unseres Konzerns nur gemeinsam zu einer Erfolgsgeschichte machen, wenn auch alle davon profitieren – Management und Beschäftigte zusammen. Das Senior-Management-Programm ist übrigens ein Pflichtbaustein unserer Managemententwicklung im Konzern.

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PERSONALquarterly: Was sind die größten Herausforderungen in der Zukunft, wenn Sie das Personal im Blick haben? Wie kann Transformation gemeistert werden?

Gunnar Kilian: Elementar ist es, die Veränderung im Sinne der Beschäftigten proaktiv, vorausschauend und so sozialverträglich wie möglich zu gestalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Transformation nur erfolgreich ins Ziel bringen werden, wenn die HR-Ressorts frühzeitig strategische Pläne ausarbeiten und mit den anderen Fachbereichen abstimmen.

Gunnar Kilian, Volkswagen AG

Eine große Herausforderung besteht aber auch für uns darin, schnell belastbare Erkenntnisse über Quantität und Qualität zukünftig benötigter Skills zu gewinnen und diese Erkenntnisse mit der Zusammensetzung des eigenen Belegschaftskörpers abzugleichen: Wo können wir umqualifizieren, wo müssen wir auf- und wo müssen wir abbauen? Workforce Transformation wird demnach zum zentralen Begriff des Handelns der Personalfunktion im Transformationskorridor. Nur durch einen gut geplanten Umbau können die Betriebe im Übergang einerseits die technologische Exzellenz und damit die notwendige Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen und andererseits die traditionelle Sozialverträglichkeit des Belegschaftsumbaus garantieren. HR muss sich hierauf systematisch vorbereiten.

Transformation kann im Übrigen nur gelingen, wenn wir industrieweit Kräfte bündeln. Insbesondere Plattformen wie der "Strategiedialog Automobilwirtschaft" können hier eine prominente Rolle spielen. Denn den Übergang in die neue Epoche der Digitalisierung können wir nicht als Einzelgänger bestehen. Wir benötigen vielmehr starke Netzwerke zwischen Wirtschaft, Politik und Forschung, um in den Dialog zu gehen, wie wir die Herausforderungen gemeinsam meistern können. So sichern wir allein im Autoland Niedersachsen Zehntausende Arbeitsplätze.

Ariane Reinhart: Die größte Herausforderung sehe ich in Deutschland im demografischen Wandel. Aktuell haben wir 16 Millionen Menschen im Alter ab 67 Jahren. 2035 werden es voraussichtlich bereits 20 Millionen Menschen sein. Das ist ein Anstieg von über 20 Prozent. Damit kommen im Jahr 2035 bis zu 43 Menschen im Rentenalter auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 66. Derzeit liegt dieser sog. Altenquotient bei 31. Ein derartiger Anstieg ließe sich nur mit einer Zuwanderung bis 2035 von jährlich 400.000 Fachkräften vermeiden. Zusätzlich zur Qualifizierungsoffensive benötigen wir folglich einen neuen Ansatz für die gesteuerte Zuwanderung junger Fachkräfte.

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PERSONALquarterly: Implizit sprechen Sie es an: Wird jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin an Bord bleiben können?

Gunnar Kilian: Die Menschen im Unternehmen sind im Kern der wichtigste Hebel für den technologischen Wandel. Wir wollen die Transformation daher gemeinsam mit unserer Belegschaft schaffen. Dennoch müssen wir es klar benennen: Unsere Transformation hin zum softwarebasierten Technologieunternehmen löst in vielen Bereichen große qualitative Veränderungen der Beschäftigung aus. Genau deshalb ist es so wichtig, die Transformation durch eine frühzeitige strategische Planung sozialverträglich zu gestalten, in der Hauptsache über die Altersteilzeit. Denn Wandel braucht Sicherheit. Ausgehandelt haben wir dies mit dem Betriebsrat zunächst im "Zukunftspakt" und später in der Roadmap "Digitale Transformation". Dieses Transformationsprogramm läuft noch bis 2023. Zudem haben wir uns mit dem Betriebsrat auf eine Verlängerung der Beschäftigungssicherung bis 2029 verständigt.

PERSONALquarterly: Wie könnten Forschung und Praxis noch besser kooperieren? In welchen Bereichen gibt es schon gute Lösungen, wo sehen Sie Bedarf?

Thomas Vietor: Für viele der Herausforderungen beim Wandel der Automobilwirtschaft gibt es Lösungen, die an den Forschungseinrichtungen wie den Universitäten entwickelt und teilweise auch erprobt wurden. Durch eine intensive Zusammenarbeit von Unternehmen, Arbeitnehmervertretungen und der Forschung können diese Lösungen in den Unternehmen eingesetzt und damit der Wandel begleitet werden. Durch diese Zusammenarbeit kann der Wandel vieler Unternehmen erfolgreicher gestaltet werden mit dem Ziel, neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen und einem großen Teil der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer neue qualifizierte Beschäftigungen zu ermöglichen.

Dieses Interview ist in ganzer Länge im Wissenschaftsjournal PERSONALquarterly 2/2022 erschienen.

Den ungekürzten Beitrag finden Sie außerdem hier als PDF zum Download.