6 Fehler: Wenn die Führungskraft ständig verfügbar sein muss

Ständig erreichbar, immer im Einsatz – diese Gefühl kennen viele Führungskräfte. Doch das ist kein Zeichen von Stärke, sondern ein Warnsignal für strukturelle Schwächen. Sechs Fehler, die Führungskräfte in die Dauerverfügbarkeit treiben.

Viele Führungskräfte kennen die Situation: Statt sich um die strategische Entwicklung ihres Unternehmens zu kümmern, werden sie vom operativen Tagesgeschäft aufgefressen. Oft fühlen sie sich wie ein lebendiger Notfallknopf: rund um die Uhr erreichbar, ständig in Entscheidungen eingebunden und ohne Raum für strategische Arbeit.

Tatsächlich ist Dauerverfügbarkeit kein Zeichen von Stärke oder Erfolg, sondern ein Warnsignal für strukturelle Probleme und schlechte Organisation, was langfristig Wachstum und Stabilität gefährdet. Wer das Tagesgeschäft nicht delegieren kann, verliert den Überblick über das Wesentliche. Sechs typische Schwachstellen hinter der ständigen Chef-Einbindung – und wie sich Unternehmen davon befreien.

1. Die Führungskraft als System

Wenn alle Entscheidungen, Eskalationen und Rückfragen früher oder später beim Chef oder der Chefin landen, dann fehlt es an klaren Systemen und Entscheidungswegen – stattdessen ist die Führungskraft selbst das System. Das Unternehmen läuft nur, solange er oder sie präsent und erreichbar ist. Das ist alles andere als nachhaltig. Denn spätestens im Urlaub oder im Krankheitsfall hat die übermäßige Abhängigkeit von der Führungskraft zur Folge, dass Angebote liegen bleiben, Projekte ins Stocken geraten oder wichtige Entscheidungen ausbleiben. Statt tragfähiger Prozesse und verschiedener Verantwortungsträger gibt es nur die Geschäftsführung als Engpass. Das führt dazu, dass das Wachstum begrenzt bleibt, Mitarbeitende nicht eigenständig agieren können und der Stresspegel kontinuierlich steigt.

Um dieses Problem zu lösen, müssen Führungskräfte Systeme schaffen, die auch ohne sie funktionieren. Indem sie Rollen klar definieren, Entscheidungen delegieren und Verantwortung sichtbar machen, sorgen sie dafür, dass nicht nur sie selbst, sondern auch andere Teammitglieder wissen, was zu tun ist.

2. Kein digitales Rückgrat

Wenn das Wissen im Unternehmen in Köpfen, in E-Mail-Schleifen oder auf Zetteln steckt, wird die Chefin oder der Chef schnell zur einzigen Auskunftsstelle. Ales Mitarbeitende, die Informationen benötigen, kommen zur Führungskraft – das macht die Organisation blind und ineffizient. Ohne transparente Tools, geteilte Dokumentationen und systematisierte Prozesse bleibt das Unternehmen im Blindflug. Typische Symptome sind neue Mitarbeitende, die mehrere Monate brauchen, um sich einzuarbeiten, To-dos, die nur mündlich verteilt und anschließend nicht nachverfolgt werden, und Entscheidungen, die mehrfach getroffen werden, weil der Kontext fehlt.

Digitale Hilfsmittel in Form von Projektboards, Wissensdatenbanken, Checklisten und Schulungsplattformen sind heute kein Nice-to-have mehr. Sie bilden die Basis, um sich aus der Dauerverfügbarkeit zu befreien. Anstatt neuen Kolleginnen und Kollegen jedes Mal aufs Neue zu erklären, wie etwas funktioniert, braucht es klare Standardprozesse, strukturierte Onboarding-Inhalte und nachvollziehbare Abläufe, die auch bei Krankheit, Urlaub oder Teamwechsel greifen.

3. Fehlen einer standardisierten Prozessstruktur

In vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen sind Prozesse organisch gewachsen. Man weiß einfach, wie die Dinge laufen. Doch genau das ist das Problem: Wenn jedes Teammitglied nach Gefühl arbeitet, bleiben gleichbleibende Ergebnisse aus, weil unterschiedliche Mitarbeitende unterschiedliche Ergebnisse liefern – je nach Interpretation. Außerdem kommt es zu häufigen Nachfragen. Wichtige Abläufe wie Angebotserstellung, Kundenkommunikation und Rechnungsstellung sind nicht dokumentiert, wodurch sich die Einarbeitung neuer Kolleginnen und Kollegen hinzieht.

Auch Qualitätsschwankungen sind ein typisches Warnzeichen, das darauf hindeutet, dass eine standardisierte Prozessstruktur fehlt und immer wieder Reibungsverluste entstehen. Oft bleibt dann nur der Weg, dass die Chefin oder der Chef die Aufgaben selbst erledigen muss, weil es "sonst nicht richtig gemacht wird". Die Lösung besteht darin, Prozesse zu visualisieren und zu standardisieren, so etwa mit einfachen Checklisten. Regelmäßige Reviews und kontinuierliche Verbesserungen müssen zur Routine werden. Zusätzlich helfen Tools wie interne Wikis, um Wissen systematisch zu dokumentieren und zu teilen.

4. Mikromanagement statt Führung

Viele Führungskräfte verwechseln Kontrolle mit Steuerung. Sie können (oder wollen) nicht loslassen - nicht selten aus dem Wunsch heraus, alles perfekt zu machen. Doch Mikromanagement ist ein Vertrauenskiller, der dazu führt, dass Mitarbeitende Aufgaben ständig wieder zurückgeben und Entscheidungen nie ganz abgegeben, sondern nur "unter Vorbehalt" delegiert werden. Die Führungskraft wiederum glaubt, sie müsse alles selbst erledigen, weil das Team es angeblich nicht kann.

Tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall: Unselbstständigkeit entsteht nicht, weil das Team inkompetent ist, sondern weil die Führungskraft ihre Mitarbeitenden nicht befähigt. Wer nie Fehler machen darf, wird nie lernen. Die Folge: Das Team entwickelt keine eigene Urteilskraft, Mitarbeitende sind zwar loyal, aber nicht führbar, und Kapazitäten für strategische Führung fehlen komplett. Wirkungsvolle Führung hingegen heißt, klar zu delegieren – und zwar mit Ergebnisverantwortung. Es geht darum, Raum für Fehler zu lassen und regelmäßig konstruktives Feedback zu geben, damit sich das Team weiterentwickeln kann.

5. Reaktive anstelle systemischer Führung

Viele Chefinnen und Chefs glauben, zu führen, weil sie viel kommunizieren. Häufig aber reagieren sie nur. Sie löschen Brände, beantworten Rückfragen und korrigieren Fehler. Doch das ist keine Führung – das ist operative Feuerwehrarbeit. Die Kommunikation erfolgt "auf Zuruf" ohne klare Routinen, während die Ziele diffus sind oder ganz fehlen. Und auch Feedback gibt es in aller Regel nur im Konfliktfall. Dadurch entsteht eine Art Pingpong-Effekt: Nicht die Führungskraft steuert die Themen, sondern die Themen steuern die Führungskraft. Strategische Steuerung? Fehlanzeige.

Abhilfe schaffen klare Meetingstrukturen wie Wochenmeetings, OKR-Check-ins oder Retrospektiven. Zusätzlich sollten Chefinnen und Chefs eine klare Zielkommunikation als Standard etablieren und bewusst Zeitfenster für aktive Führung einplanen, statt sich nur zwischen Tür und Angel darum zu kümmern.

6. Kein richtiger Fokus

Eine oft übersehene Schwachstelle ist das Fehlen klarer Prioritäten. Wenn alles gleichzeitig wichtig ist, wird am Ende nichts wirklich konsequent vorangebracht. Was unklar ist, landet automatisch wieder der Führungskraft. Typischerweise äußert sich ein fehlender Fokus darin, dass es keine klaren Quartalsziele gibt oder das Tagesgeschäft langfristige Themen verdrängt. Stattdessen orientiert sich das Team an den Aufgaben, die gerade anstehen.

Die Lösung: strategische Klarheit in Form von Fokusfeldern, konkreten Maßnahmen und Prioritäten. Denn wer weiß, wohin das Unternehmen möchte, kann operative Entscheidungen danach ausrichten. So sollten Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer zum Beispiel regelmäßig Prioritäten setzen – dabei helfen Werkzeuge wie die Eisenhower-Matrix oder die MoSCoW-Methode. Zusätzlich empfiehlt es sich, Entscheidungen transparent zu dokumentieren.

Dauerverfügbarkeit ist kein Heldenzeichen, sondern ein Warnlicht

Wenn die Führungskraft ständig verfügbar sein muss, liegt das Problem nicht im Team, sondern im System. Wirkliche Führung bedeutet, Strukturen zu schaffen, die entlasten. Dazu gehört, Verantwortung klar zu verteilen, Prozesse zu digitalisieren und Führung aktiv zu gestalten. Nur so entsteht echte unternehmerische Freiheit – nämlich dann, wenn das Unternehmen auch ohne den Chef oder die Chefin als lebendigen Notfallknopf funktioniert.


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