Work-Life-Blending: Arbeitszeit nicht mehr messbar

Raus aus dem Büro, rein in den Feierabend. So einfach funktioniert die heutige Arbeitswelt nicht mehr. Gerade nach Dienstschluss wird immer mehr gearbeitet, wie verschiedene Studien feststellen – eine Herausforderung für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitsrechtler.

"Noch 148 Mails checken; wer weiß, was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel", sang der Liedermacher Tim Bendzko schon im Jahr 2011. Mit der Digitalkommunikation Schritt zu halten, ist heute für immer mehr Arbeitnehmer eine große Herausforderung. Was nicht während der Arbeitszeit geschieht, passiert in der Freizeit - beides lässt sich kaum mehr voneinander trennen. 

Das belegen Ergebnisse einer Studie zu Work-Life-Blending des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) sowie die Studie "So arbeitet Deutschland", die von der Personalberatung S-Three in Zusammenarbeit mit You-Gov veröffentlicht wurde. Für die Untersuchung hat das IZA 1.808 Beschäftigte zwischen 25 und 54 Jahren befragt sowie zusätzlich die Angaben von 1.967 Nutzern des Karrierenetzwerks Xing ausgewertet.

Work Life Blending: Fließende Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit

Der Untersuchung von IZA zufolge sagen knapp 63 Prozent der Befragten, dass sie sich auch in ihrer Freizeit mit der Arbeit beschäftigen. Unter den Xing-Nutzern waren es sogar mehr als 87 Prozent. Die Arbeitnehmer beantworten demnach zum Beispiel Dienst-Mails nach Feierabend oder beschäftigen sich mit einschlägiger Fachliteratur und Informationsmaterial, um sich auf die Herausforderungen im Job einzustellen. So verbringen knapp 22 Prozent der Arbeitnehmer in ihrer Freizeit zwei Stunden pro Woche mit Tätigkeiten, die eigentlich zu ihrer Arbeit gehören. Bei mehr als einem Viertel (26 Prozent) sind es zwischen drei und zehn wöchentliche Arbeitsstunden nach Feierabend. 13 Prozent der Beschäftigten arbeiten sogar bis zu zwanzig oder mehr Stunden nach Dienstschluss.

Zusammen mit Überstunden geht diese Mehrbelastung häufig sogar über die gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit hinaus: 53 Prozent der von S-Three Befragten, geben an, dass es vorkommt, dass sie mehr als die vorgeschriebenen zehn Stunden maximale Tagesarbeitszeit leisten. In 71 Prozent dieser Fälle weiß der Studie zufolge der Chef sogar von dieser Überschreitung und nimmt sie in Kauf. Ein Vorschlag ist deshalb, die maximale Stundenzahl lieber als Wochen- oder als Monatsarbeitszeit festzulegen.

Flexibilität erzeugt Druck und psychische Probleme

Diese zunehmende Flexibilität hat laut der Studie von SThree direkte negative Folgen: Bei 77 Prozent macht sich demnach der Stress im Arbeitsleben bereits deutlich bemerkbar. Die Befragten fühlen sich nicht nur von ihrem Chef (30 Prozent) sondern auch zu einem ähnlichen Anteil (28 Prozent) von sich selbst unter Druck gesetzt. In der Folge finden 63 Prozent, dass mentale Probleme bereits heute verbreitet sind, und sogar 67 Prozent gehen davon aus, dass diese Probleme in Zukunft zunehmen werden.

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sieht bei der Einhaltung von Arbeitszeiten auch die zuständigen Behörden in der Pflicht: Diese hätten im Jahr 2017 zu selten Arbeitszeit-Kontrollen in Deutschland durchgeführt, nämlich 21 Prozent weniger als im Vorjahr. Demnach würde die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen im Schnitt nur in 0,43 Prozent der deutschen Betriebe überprüft, zu selten um die Einhaltung tatsächlich durchsetzen zu können.

Kann man Arbeitszeit noch richtig erfassen?

Hilmar Schneider, der Leiter des IZA, stellt mit Blick auf die Studienergebnisse fest, dass Wissensarbeit und auch das berufliche Netzwerken zunehmend außerhalb des Arbeitsplatzes stattfinden. "Die Messbarkeit der Arbeitszeit gerät damit zur Illusion", sagt Schneider. Das Arbeitszeitgesetz gehe jedoch nach wie vor davon aus, dass sich die Arbeitszeit eindeutig messen lasse. Eben das werde allerdings immer schwieriger, wenn die Mitarbeiter verstärkt in ihrer Freizeit arbeiten. Langfristig bestehe somit die Gefahr, dass das Arbeitszeitgesetz seine Wirksamkeit als Schutzmechanismus gegen Überlastung im Berufsleben verliert.

Click to tweet

New Work in der Diskussion

Die neuen Verhältnisse in der Arbeitswelt machten schon deshalb eine grundsätzliche Debatte über die Definition von Arbeit notwendig, glaubt Schneider. Insgesamt nähere sich die abhängige Beschäftigung immer mehr der selbstständigen Arbeit an. Gerade dieser Umstand könne die Belastung im Arbeitsleben auf lange Sicht erheblich steigern, warnt der IZA-Leiter. Nun seien völlig neue Lösungsansätze gefragt - mit Forderungen wie einem Verbot von beruflichen Mails außerhalb der Bürozeiten sei den aktuellen Problemen nicht mehr beizukommen. 

Mit einem solchen Vorstoß hatte jüngst der Porsche-Betriebsrats-Chef die Debatte um die ständige Erreichbarkeit angefacht - er wollte dienstliche Mails nach Feierabend löschen lassen.  


Mehr zum Thema:

Interview: Arbeitspsychologin Nina Pauls zum Forschungsprojekt "Management ständiger Erreichbarkeit"

Kolumne von Alexander R. Zumkeller zu notwendigen Anpassungen des Arbeitsrechts

dpa
Schlagworte zum Thema:  New Work, Arbeitszeitgesetz, Arbeitszeitmodell