Unternehmen umgehen Mitbestimmung durch Rechtsform SE

Ein Viertel der Dax-Unternehmen hat keinen paritätisch besetzen Aufsichtsrat. Immer mehr Unternehmen haben sich in die Rechtsform SE (Europäische Aktiengesellschaft) geflüchtet und umgehen damit deutsche Mitbestimmungspflichten und die Frauenquote. Das zeigt eine Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung.

Seit 20 Jahren gibt es in der EU die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Seit gut zehn Jahren steigt die Zahl der SE kräftig, gerade in der Bundesrepublik. Mehr als die Hälfte der operativ tätigen SE in der EU sind deutsche Unternehmen. Etliche von ihnen sind ganz überwiegend im Inland aktiv, obwohl die SE eigentlich dazu dienen sollte, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Arbeit zu erleichtern.

Für die Mitbestimmung ist die SE zu einem Problem geworden

Für das Arbeitnehmerrecht auf Mitbestimmung ist die SE in Deutschland zu einem großen Problem geworden, wie eine aktuelle Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) mit der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Von den 424 aktiven deutschen SE (Stand Juli 2021) haben 107 mehr als 2.000 Beschäftigte im Inland. Wären sie etwa Aktiengesellschaften nach deutschem Recht (AG), könnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zahlenmäßig paritätisch mitentscheiden – so wie in den aktuell 211 deutschen AGs mit mehr als 2.000 Beschäftigten im Inland. Doch tatsächlich verfügen nur 21 der 107 großen SE über Aufsichtsräte, in denen zur Hälfte Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten sitzen. Vier von fünf großen SE vermeiden also die paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat. Davon sind aktuell mehr als 300.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, die Tendenz ist seit Jahren steigend.

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"20 Jahre SE sind leider kein Grund zum Feiern. Das Jubiläum müsste daher ein Anlass sein, die Schwächen in der Gesetzgebung zu beheben, die es so einfach machen, die SE als Vehikel zur Mitbestimmungsvermeidung zu missbrauchen", sagt Dr. Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des IMU.  

Mitbestimmung: Unterschiede zwischen deutscher Aktiengesellschaft (AG) und europäischer Aktiengesellschaft (SE)

Das Problem bisher: Bei einer deutschen AG oder GmbH garantieren die Mitbestimmungsgesetze ab 501 bzw. 2.001 inländischen Beschäftigten den Arbeitnehmenden ein Drittel bzw. die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat. Hingegen gelten bei der SE zwei Grundsätze: "Mitbestimmung ist Verhandlungssache" und "Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene Mitbestimmungsstatus bleibt für immer". Wachsende Unternehmen, die Arbeitnehmerbeteiligung verhindern wollen, firmieren deshalb häufig dann in eine SE um, wenn sie sich den einschlägigen "Schwellenwerten" bei den Beschäftigtenzahlen nähern. Geschieht das beispielsweise bei bis zu 500 Beschäftigten im Unternehmen, wenn auch mit deutscher Rechtsform noch keinerlei Anspruch auf Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat besteht, kann dieser Zustand dauerhaft festgeschrieben werden, egal, wie groß das Unternehmen nachträglich noch wird.

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Gezieltes "Einfrieren" des Mitbestimmungsstatus

Fachleute bezeichnen dieses Vorgehen auch als "Einfrieren". Dementsprechend sind die 21 Positivbeispiele paritätisch mitbestimmter SE ganz überwiegend große Unternehmen, die schon vor der Umwandlung paritätisch mitbestimmt waren oder Tochtergesellschaften sehr großer paritätisch mitbestimmter Unternehmen sind. Einige EU-Staaten beugen dem "Einfrieren" bereits gesetzlich vor; auch im deutschen Recht wäre das ohne Probleme möglich, so das IMU.

Ein Viertel der Dax-40-Unternehmen haben keinen paritätisch besetzten Aufsichtsrat

Durch die Erweiterung des DAX von 30 auf 40 Mitglieder sind nunmehr 14 SE unterschiedlicher Größe im wichtigsten deutschen Börsenindex vertreten. Lediglich vier davon (Allianz, BASF, Eon und SAP) haben  einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. Bei allen anderen zehn ist nach der IMU-Analyse eine geringere oder sogar gar keine Mitbestimmung im Aufsichtsrat dauerhaft festgeschrieben - egal, wie groß sie noch werden. Damit hat ein Viertel der Dax-Unternehmen keinen paritätisch besetzen Aufsichtsrat.

Beispiel Vonovia: Der Wohnungskonzern mit gut 10.000 Beschäftigten hat keinerlei Beschäftigtenmitsprache im Aufsichtsrat. Beispiel Zalando: Dort haben Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten lediglich ein Drittel der Sitze inne, weil der Onlinehändler die Umwandlung zur SE kurz vor Erreichen des Schwellenwerts von 2.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abschloss.

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Auch Frauenquote gilt bei SE nicht

Das bedeutet auch, dass bei zehn der 14 SE im Flaggschiff-Segment des deutschen Kapitalmarkts die verbindliche Geschlechterquote für die Aufsichts- und Leitungsorgane nicht gilt. Denn das entsprechende Gesetz bezieht sich allein auf Unternehmen, die paritätisch mitbestimmt sind. "Unabhängig vom Problem, dass dies Anreize zur Mitbestimmungsumgehung setzt, ist das eine nicht nachvollziehbare Ungleichbehandlung, die dem gesetzgeberischen Ziel zuwiderläuft, Gleichstellung zu fördern", sagt Dr. Sebastian Sick, IMU-Experte für Unternehmensrecht und Mitglied der Regierungskommission "Deutscher Corporate Governance Kodex". Laut einer Untersuchung der Beratungsgesellschaft Russell Reynolds sank mit den Neuzugängen im deutschen Leitindex der durchschnittliche Frauenanteil in den Aufsichtsräten und Vorständen der DAX-Unternehmen.


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Schlagworte zum Thema:  Mitbestimmung, Frauenquote, Aktiengesellschaft