Strukturierte Einstellungsinterviews: mehr Erkenntnisgewinn

Mit psychologischen Fakten und einer großen Portion Sarkasmus klärt Professor Uwe P. Kanning in seiner Kolumne über Mythen und Missstände im Bereich der Führung, Personalauswahl und Personalentwicklung auf. Heute seziert er die Methoden der allzu erfahrenen Interviewenden im Einstellungsgespräch und zeigt auf, welchen Schaden sie anrichten können.

Die Personalauswahl gehört zu den wichtigsten Investitionsentscheidungen eines jeden Unternehmens. Da die meisten Arbeitgeber dies schon vor langer Zeit erkannt haben, legen sie die Verantwortung für diese wichtige Aufgabe üblicherweise in besonders berufene Hände. Gefragt ist hier der Typ "Menschenkenner" mit möglichst viel Berufs- und Lebenserfahrung. Je mehr Erfahrung, desto besser, denn schließlich beruht wahre Expertise allein auf der Erfahrung. Deshalb wird die Tour de France regelmäßig von Männern gewonnen, die schon in ihrer Kindheit das Fahrradfahren gelernt haben, und deshalb sind auch die meisten Olympiasieger im fortgeschrittenen Rentenalter.

Das übliche Prozedere beim Einstellungsinterview

Das Interview des Menschenkenners - respektive der Menschenkennerin - sieht in etwa so aus:

Vor dem Gespräch sichtet man kurz die Bewerbungsunterlagen, um ein oder zwei markante Ereignisse aus der Biographie zu identifizieren, über die man später gern ein wenig plaudern möchte. Das Interview beginnt dann mit einer Selbstvorstellung des Bewerbers oder der Bewerberin und einigen messerscharfen Fragen, die der alte Hase – beziehungsweise die alte Häsin – virtuos zum Einsatz bringt und die alle Bewerbenden aus der Reserve locken: Was sind Ihre größten Stärken? Worin liegt Ihre größte Schwäche? Warum haben Sie sich bei uns beworben? Warum soll ich Sie einstellen? Was wissen Sie über unser Unternehmen?

Anschließend geht man auf die Biographie des Bewerbers oder der Bewerberin und seine oder ihre Freizeitaktivitäten ein. Die weiteren Fragen ergeben sich aus den Antworten der Bewerbenden. Sofern überhaupt noch Fragen gestellt werden, denn in der Regel spürt der erfahrene Interviewer oder die Interviewerin schon nach wenigen Minuten, ob der Bewerber oder die Bewerberin passt oder nicht und bringt gegebenenfalls das Gespräch schnell zu einem Ende, um nicht unnötig viel Zeit zu verplempern. Eine Stellenzusage bekommt am Ende die Person, die dem Interviewer oder der Interviewerin die schönsten Gefühle verschafft hat.

Strukturierte versus unstrukturierte Interviews: der Erkenntnisgewinn leidet

Interviews, die so oder so ähnlich ablaufen, werden in der Forschung als unstrukturierte oder geringstrukturierte Interviews bezeichnet. Über die spätere berufliche Leistung der Bewerbenden sagen sie so gut wie nichts aus – etwa zehn Prozent. Hochstrukturierte Interviews wären etwa drei- bis viermal aussagekräftiger. Sie kommen aber in deutschen Unternehmen nur selten zum Einsatz - was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass man dem erfahrenen Menschenkenner kein enges Korsett anlegen möchte, zumal dann, wenn er in der Hierarchie des Unternehmens weit oben steht.

Das ist verständlich. Würde man erfahrenen Chefchirurgen und -chirurginnen zumuten, Handschuhe zu tragen und die Bestecke sterilisieren zu lassen? Würde man von erfahrenen Brückenbauern erwarten, dass sie die Statik berechnen lassen? Nein, natürlich nicht. Erfahrenen Leuten kann man so etwas nicht zumuten.

Welchen Schaden unstrukturierte Interviews anrichten

Nun könnte man denken, zehn Prozent sind immer noch besser als null Prozent. So richtig schaden kann das unstrukturierte Interview doch eigentlich nicht, oder? Eine US-amerikanische Publikation zeigt das Gegenteil.

In mehreren Einzelstudien wurde untersucht, wie gut erfahrene Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in der Lage sind, in einem Bewerberpool geeignete Personen zu identifizieren. Hierzu wurden ihnen unterschiedliche Informationen über die einzelnen Bewerber und Bewerberinnen zur Verfügung gestellt. In der ersten Untersuchungsgruppe erhielten sie jeweils drei Informationen: Das Ergebnis eines Intelligenztests, das Ergebnis eines Persönlichkeitsfragebogens zur Messung der Gewissenhaftigkeit und das Ergebnis eines unstrukturierten Interviews. In der zweiten Untersuchungsgruppe fehlte das Ergebnis des unstrukturierten Interviews.

In allen Einzelstudien ergab sich dasselbe Ergebnis:

  • Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen, die zusätzliche Informationen über das Abschneiden in einem unstrukturierten Interview erhalten hatten, erzielten signifikant schlechtere Trefferquoten als Personen, die ihre Entscheidung allein vom Intelligenztest und der Gewissenhaftigkeit abhängig machten. Das heißt, sie waren weniger gut darin, geeignete Personen als solche zu identifizieren.
  • Der Grund hierfür lag vor allem darin, dass sie die Aussagekraft des unstrukturierten Interviews extrem überschätzten und gleichzeitig die Aussagekraft des Intelligenztests massiv unterschätzten. Sie nahmen daher in der Gesamtentscheidung eine falsche Gewichtung der Informationen vor.

Wegducken vor der wissenschaftlichen Erkenntnis

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen für die Praxis ziehen? Sollte man in Zukunft lieber hochstrukturierte Interviews einsetzen? Sollte man die alten Hasen und Häsinnen darüber aufklären, wie sinnlos ihr Einsatz seit Jahrzehnten ist? Nein, natürlich nicht, denn letztlich kommt es nicht darauf an, dass die besten Bewerbenden eingestellt werden, sondern dass sich die Interviewenden wohlfühlen, insbesondere wenn sie eine hohe Position bekleiden.


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.