Psychologie: Entzauberung der Menschenkenntnis

So mancher Mythos geistert durch die Personalabteilungen - gerade wenn es um psychologisches Wissen geht. Professor Uwe P. Kanning klärt in seiner monatlichen Kolumne über die Fakten auf. Heute: Warum auf psychologische Forschung mehr Verlass ist als auf Menschenkenntnis.

Verfügen Sie über Menschenkenntnis? Ist es Ihnen möglich die Persönlichkeit eines Gesprächspartners in wenigen Minuten zu erfassen? Durchschauen Sie andere Menschen schnell, wenn diese versuchen, Ihnen etwas vorzuspielen? – Herzlichen Glückwunsch, Sie sind nicht allein!

Die meisten Menschen werden derartige Fragen spontan mit "Ja" beantworten, insbesondere, wenn es sich um Führungskräfte handelt, man bereits viele Einstellungsinterviews geführt oder täglich mit Kunden zu tun hat. Die Routine im Umgang mit anderen Menschen vermittelt Sicherheit. Wer in seinem Leben tausenden von Menschen begegnet ist, der muss doch eigentlich die Menschen kennen, oder etwa nicht?

Auch Personaler schieben Verantwortung für falsche Entscheidungen von sich

Ein unbefangener Blick auf menschliche Phänomene des Alltags lässt erste Zweifel aufkommen. Wie ist es möglich, dass ein gewisser Herr zu Guttenberg von vielen Menschen als vollkommen integere Person erlebt wurde (und wird), obwohl er es in einem ganz zentralen Punkt seiner Biografie offenkundig mit der Wahrheit nicht so ganz genau genommen hat? Wie gelingt es Betrügern vom Format eines Jürgen Schneiders oder Bernhard Madoffs lebenserfahrene Geschäftspartner über ihre kriminellen Machenschaften problemlos hinwegzutäuschen?

Jeder der einmal von seinem Lebenspartner getäuscht oder gar betrogen wurde, könnte eigentlich an seiner Menschenkenntnis zweifeln. Gleiches gilt für jeden Personalverantwortlichen, der eine Entscheidung gefällt hat, die sich im Nachhinein als falsch erwies. In der Regel wird dies aber nicht geschehen. Ist es doch viel leichter und weniger bedrohlich für das Ego, die Verantwortung hierfür seinem Gegenüber zuzuschieben oder das Ganze nur als unglückliche Ausnahme zu deuten.

Psychologische Forschung zeigt Beurteilungsfehler auf

Seit Jahrzehnten beschäftigt man sich in der Psychologie mit der Frage, was in unserem Kopf abläuft, wenn wir andere Menschen beurteilen und hat dabei zahlreiche Phänomene einer systematisch verzerrten Urteilsbildung zu Tage gefördert - darunter die Folgenden...

  • Attraktivität: Menschen, die gut aussehen, werden von uns als intelligenter sowie sozial und fachlich kompetenter erlebt als weniger gut aussehende Menschen. Gut aussehende Bewerber erhalten mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. In unserer Wahrnehmung gilt ganz allgemein: "Beautiful is Good!"
  • Ähnlichkeit: Menschen, die uns zum Beispiel im Hinblick auf Ausbildung oder Einstellungen ähnlich sind, werden positiver bewertet als unähnliche. Ein Bewerber, der uns irgendwie an uns selbst erinnert, muss ganz einfach ein guter Mitarbeiter und angenehmer Kollege sein, schließlich halten wir uns doch auch dafür.
  • Maskulinität: Menschen, die groß und breitschultrig sind, wird eher Führungsstärke zugesprochen als solchen, die klein und schmächtig daher kommen. Hierin spiegelt sich ein archaisches Führungskonzept, das wohl aus einer Zeit stammt, als Führungskräfte noch mit Körperkraft die Sippe vor dem Säbelzahntiger schützen mussten. Nachdem aber in den meisten Unternehmen Faustkämpfe inzwischen aus der Mode gekommen sein dürften, ist Führungserfolg weniger eine Frage des Bizeps als vielmehr des Verstands.
  • Übergewicht: Beleibte Mitmenschen werden weniger positiv bewertet als schlanke. Wahrscheinlich unterstellt man ihnen eine geringere Disziplin und Leistungsmotivation oder aber sie werden Opfer des Attraktivitätseffekts, da deutliches Übergewicht dem heutigen Schönheitsideal widerspricht.
  • Name: Offenbar assoziieren wir mit Namen bestimmte Persönlichkeitseigenschaften. Eine jüngst vorgelegte Studie zeigt, dass Menschen mit aristokratisch klingendem Namen mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen anzutreffen sind. So manchen Menschenkenner erscheint ein Ludwig von Bayern spontan wohl kompetenter als ein Helmut Schmidt.
  • Akzent: Amerikanische Studien ergaben, dass Menschen mit starkem Akzent weniger positiv bewertet werden, als solche, die akzentfrei sprechen. Inwieweit dies auch in Deutschland zutrifft bleibt einstweilen unbekannt. Zumindest in der "Deidschn Demokrodschn Rebublik" hat sich der Akzent seinerzeit bei der Auswahl der Diktatoren für diese nicht als nachteilig erwiesen.
  • Soziale Herkunft: Soziologische Studien zeigen, dass man in Deutschland mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Mitglied eines Vorstands wird, wenn die eigenen Eltern aus dem Großbürgertum stammen und zwar selbst dann, wenn alternative Kandidaten über die gleiche Hochschulbildung verfügen. Wahrscheinlich assoziieren wir mit der sozialen Herkunft eines Menschen von vornherein eine Eignung für bestimmte Aufgaben.

Derartige Verzerrungen bestimmen unsere Alltagsentscheidungen, ohne dass wir es merken. Und genau hier liegt das Problem. Sich selbst zu hinterfragen gehört nicht gerade zu den Stärken des Menschen. Helfen könnte ein Blick in die Forschung. Beispielsweise ist die Prognosegüte von unstrukturierten Einstellungsinterviews, bei denen man zu hundert Prozent auf die Menschenkenntnis der Interviewer setzt, um den Faktor acht geringer als die strukturierter Verfahren – aber das gilt natürlich nur für die Interviews der anderen und nicht für die eigenen.

Menschenkenntnis ist nicht viel mehr als eine schöne Illusion, die uns des Nachts zu Unrecht ruhig schlafen lässt. Durch regen Kontakt zu anderen Menschen wird man ebenso wenig zu einem Menschenkenner, wie durch regelmäßige Nahrungsaufnahme zu einem Gourmet.

Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

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