Microexpressions: Wenig Nutzen in der Personalauswahl

So manchen Mythos in der HR-Welt konnte Professor Uwe P. Kanning schon in seiner Kolumne aufklären. Mit psychologischen Fakten begegnet er den Anhängern des Bauchgefühls. Heute erklärt er, warum das Rätseln um Microexpressions im beruflichen Alltag und in der Personalauswahl keinen Nutzen bringt. 

Wäre es nicht großartig, wenn Sie einem Bewerber einfach nur ins Gesicht schauen müssten, um zu erkennen, ob er gerade lügt oder die Wahrheit sagt? Ließe sich nicht ein Vorteil daraus ziehen, wenn Sie in einer Verhandlung sicher einschätzen könnten, ob Sie Ihrem Verhandlungspartner vertrauen dürfen? Würden Sie nicht gern in jedem Gespräch mit Vorgesetzten, Kunden, Kollegen oder Mitarbeitern einen unverfälschten Zugang zu den Gedanken Ihres Gegenübers finden? Viele Menschen würde all diese Fragen mit einem beherzten "Ja" beantworten. Recht haben sie. Nicht wenige von ihnen würde wohl noch einen Schritt weitergehen und von sich behaupten, dass sie hierzu ohnehin schon in der Lage seien, schließlich haben sie sich in vielen Jahren der Lebens- und Berufserfahrung vom Novizen mit gesundem Menschenverstand und hervorragenden Instinkten zu einem wahren Menschenkenner entwickelt. All diejenigen jedoch, die sich noch ein wenig kritische Selbstreflexion bewahrt haben, werden vielleicht an konkreten Techniken interessiert sein, mit deren Hilfe sie ihre Mitmenschen besser durchschauen können.

Microexpressions: Emotionen in Mimik erkennen?

Das Angebot an einschlägigen Psychotricks ist riesengroß. Eine vergleichsweise seriös anmutende Methode ist die Interpretation sogenannter Microexpressions. Microexpressions beziehen sich auf Emotionen eines Menschen, die sich in seiner Mimik spiegeln.

Folgen wir dem Altmeister dieser Forschung – dem amerikanischen Psychologen Paul Ekman – so lassen sich in den Gesichtszügen sieben grundlegende Emotionen eindeutig identifizieren: Angst, Überraschung, Ärger, Ekel, Verachtung, Trauer, Freude. Die allermeisten Menschen sind in der Lage, ohne große Probleme entsprechende Emotionen in der Mimik ihres Gegenübers zu identifizieren und dies auch über kulturelle Grenzen hinweg. Einiges spricht dafür, dass der Ausdruck derartiger Basisemotionen weitgehend biologisch determiniert ist.

Neben dem für jedermann offensichtlichen Ausdruck von Emotionen – die man als Macroexpressions bezeichnen könnte – existieren Microexpressions. Hierbei handelt es sich um schwache Ausprägungen des mimischen Ausdrucks von Emotionen, die nur für Bruchteile einer Sekunde zu sehen sind. Nach der Interpretation von Ekman spiegeln sich hierin in gleicher Weise die Emotionen des Menschen wie in Macroexpressions. Sie treten nur deshalb schwach und kurzeitig auf, weil die Person versucht, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

Warum Microexpressions im beruflichen Kontext wenig hilfreich sind

Anbieter im Bereich der Microexpressions versprechen ihren Kunden, dass sie Menschen durchleuchten können, weil sie in der Lage sind, feinste Veränderungen der Mimik zu lesen und entsprechende Fertigkeiten auch ihren Kunden beibringen können. Völlig absurd ist dieser Ansatz nicht. Die Forschung zeigt, dass es durchaus möglich ist, die Wahrnehmung von Microexpressions zu trainieren. Einige wenige Studien zeigen zudem, dass trainierte Personen mit höherer Wahrscheinlichkeit in der Lage sind, Lügen zu identifizieren als untrainierte Personen. Leider ist all dies aber kein Beleg für den Nutzen der Methode im beruflichen Kontext und zwar aus zahlreichen Gründen:

Erstens: Es geht immer nur um die Wahrnehmung von Emotionen. Lügen sind keine Emotionen, dementsprechend gibt es auch keinen mimischen Ausdruck für Lügen. Die Deuter interpretieren vielmehr Veränderung der Mimik beziehungsweise Unregelmäßigkeiten als Hinweis auf eine Lüge. Dies ist aber nur eine mögliche Interpretation. Es gibt viele weitere ebenso plausible Interpretationen für Veränderungen der Mimik. Vielleicht fühlt sich ein Bewerber gerade besonders unwohl und versucht dennoch professionell aufzutreten. Vielleicht schweifen die Gedanken eines Gesprächspartners gerade ab. Woher will der Deuter wissen, welche Interpretation die Richtige ist?

Zweitens: In den einschlägigen Untersuchungen wissen die Probanden, dass es um die Identifizierung von Lügen geht. Die Personen, deren Gesichter sie interpretieren müssen, werden aufgefordert, mal zu lügen und mal die Wahrheit zu sagen. Das macht die Interpretation sehr viel leichter als im Alltag. Hinzu kommt das Problem, dass die Personen, deren Gesichter gedeutet werden, sich in einer sehr künstlichen Situation befinden. Sie spielen gewissermaßen nur die Lüge, ohne sich in einem realen Kontext zu befinden.

Drittens: In der Personalauswahl geht es nicht um die Einschätzung situativer Emotionen, sondern um die Diagnose zeitlich überdauernder Eigenschaften, die sich zur Prognose der beruflichen Leistung eignen.

Viertens: Ekman selbst verweist darauf, dass es individuelle Unterschiede im Ausdruck der Mimik gibt. Der Deuter müsste daher eigentlich den Einzelfall berücksichtigen, was nur möglich ist, wenn er sein Gegenüber gut kennt.

Fünftens: Ebenso ist mit großen Unterschieden in der Qualität der Deuter zu rechnen. Wie immer fühlen sich viele berufen und nur wenige sind auserwählt.

Sechstens: Es ist unklar, inwieweit die Aufmerksamkeit auf die Mimik des Gegenübers dazu führt, dass andere, viel wichtigere Informationen ausgeblendet werden. Vielleicht sagt der Gesprächspartner ja auch mal etwas, das einer Beachtung wert wäre.

Siebtens: Die Deutung kann die Aufmerksamkeit so sehr binden, dass der Deuter in dem Gespräch selbst nicht mehr professionell agieren kann. Wer ständig auf die Mimik des Verhandlungspartners achtet, hat weniger Zeit, gute Argumente zu generieren.

Zu guter Letzt verändert die Reaktion des Deuters auf eine vermeintliche Lüge (zum Beispiel härteres Nachfragen im Interview oder ärgerlicher Gesichtsausdruck des Deuters) wiederum das mimische Verhalten des Gegenübers. Der Deuter kann damit im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung seine Fehleinschätzungen dem Schein nach validieren.

Wer Mikroexpressions im beruflichen Alltag einsetzt, bewegt sich daher auf sehr dünnem Eis. Von einem effektiven Psychotrick ist auch diese Methoden weit entfernt. Es bleibt schwierig.


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist oder was Sprachanalysen über die Persönlichkeit aussagen können.

Schlagworte zum Thema:  Personalauswahl, Personalarbeit