Krisenmanagement und Führen in Extremsituationen

Nur wer sich selbst exzellent führt, kann auch andere zum Erfolg bringen. Gespräche mit Extremsportlern, Abenteurern und einem Turnaround-Manager zeigen, was Führung in schwierigen Zeiten auszeichnet und wie diese Erfolgsfaktoren in den Unternehmensalltag übertragen werden können.

Menschen – und auch sich selbst – zu führen, ist in schwierigen Zeiten eine extreme Herausforderung. Wie das trotzdem gelingen kann, haben wir in vielen Interviews und Gesprächen mit herausragenden Führungspersönlichkeiten erfragt. Ob Abenteurer, Extrembergsteiger, Extremschwimmer, Seenotretter, Ärzte ohne Grenzen, Technisches Hilfswerk – Führung in Extremsituationen kann man lernen von Menschen, die sich selbst extremen Situationen aussetzen und dort fast Unmenschliches leisten.

Extremsituationen verlangen teilweise einen direktiven Führungsstil

Extremsituationen sind nicht immer Katastrophen. Extreme Lagen sind Risikosituationen, bei denen niemand verlässlich einschätzen kann, wo und wie genau das Risiko liegt oder wie lange es virulent bleiben wird. Der Extremabenteurer Arved Fuchs etwa unterscheidet auf seinen Polar-Touren zwischen Eislage und Sturmlage. Bei Sturmlage gibt es keine Zeit für Diskussionen, und der Expeditionsleiter führt sehr direktiv. Hinterher erläutert er aber, warum er so entschieden hat. Anders ist es bei einer Eislage: Hier hat man Zeit für Diskussionen und kann gemeinsam die beste Lösung finden. Die Vorgehensweise widerspricht dem aktuellen Trend eines hoch partizipativen und fast basisdemokratischen Miteinanders in Führungs- und Entscheidungsprozessen.

True Leadership erfordert "üben, üben, üben"

Gemein ist allen erfolgreichen True Leadern in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Hochleistungssport und Extremabenteuer, dass alle intensiv üben, und zwar physisch, und nicht nur am Schreibtisch, auf Papier oder geduldigen Charts. Der Extremschwimmer André Wiersig hat zum Beispiel berichtet, dass Quallen vielmehr eine Gefahr im Meer sind als gefürchtete Haie. Um sich darauf vorzubereiten, hat Wiersig ein Forschungsinstitut angefragt, ob er dort einmal giftige Quallen anfassen könne. Es geht darum, eine Routine so zu verinnerlichen, dass man im Ernstfall den Kopf frei hat. Reinhold Messner hat die Achttausender nach demselben Prinzip bestiegen. Es drängen sich Vergleiche mit aktuellem Krisenmanagement zur Pandemie-Lage auf, wo häufig viel geplant, aber wenig in Szenarien tatsächlich geübt wird. Pläne in der Schublade führen selten zum Ziel.

Krisenmanager müssen Angst nehmen und Perspektiven schaffen

Ein gutes Beispiel für das Erfordernis guter Vorbereitung sind Turnaround-Situationen. Felix Colsman ist Manager und wurde 2013 für einen Turnaround an die Spitze eines Unternehmens gerufen, das in einen Wirtschaftsskandal geraten war: "Ich komme in Unternehmen rein, die wirtschaftlich in Schieflage geraten sind. Das sind Unternehmen, bei denen klar ist: Ein normales 'Weiter so' geht nicht. Dafür ist der Druck der Lage zu extrem."

In so einer Situation sind Führungskräfte und Mitarbeiter massiv verunsichert: "Sie haben Angst, auch Existenzangst. Die größte Gefahr ist, dass diese Angst in Perspektivlosigkeit umschlägt. Das führt dann zu Missmut und Verzagen. Meine Aufgabe ist es, Unternehmen aufzubauen, wieder zum Wachstum zu befähigen. Dafür gilt es, die Menschen mitzunehmen, in Bewegung zu bringen, zu verhindern, dass Missmut und Verzagen die Oberhand gewinnen."

Krisenmanagement erfordert Kommunikation auf allen Ebenen

"In so einer Situation musst du sehr schnell und intensiv mit den Menschen reden – nicht nur mit den Führungskräften, sondern auch mit den Mitarbeitern", so Colsman. Das sind unzählige Einzelgespräche. Wenn es erforderlich ist, führt Colsman solche Gespräche auch bis drei Uhr nachts: "Je schneller du alle erreichst, desto besser. Denn in extremen Lagen musst du schnell agieren." Diese Gespräche dienen nicht nur dazu, die Menschen abzuholen und aufzurichten. "Im Gespräch erkennst du auch schnell: Wer zieht mit beim Turnaround und wer verfällt in Schockstarre. Mimik und Gestik der Gesprächspartner zeigen das mehr als deutlich. Alle wollen stark erscheinen, aber nicht alle sind es auch wirklich. Viele halten zwar eine Fassade hoch, die in einem intensiven Gespräch jedoch schnell zusammenbricht. Das merkt man, das spürt man."

Woran? "Gestik und Mimik der Gesprächspartner passen nicht mehr mit ihren Aussagen zusammen. Oder sie weichen aus, mit Blicken oder Worten. Für solche und andere Signale habe ich inzwischen ein gutes Gespür entwickelt. Das lernt man mit der Zeit."

Was im Krisenfall hilft: Antizipation und Vorbereitung

"Beim Schönwettersegeln übersieht oder vernachlässigt man vieles, was in der Krise Mast- und Schotbruch bedeutet. Da muss man sich schon vorbereiten", so Colsman. "Krisen-Auslöser haben unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten. Und manchmal treffen dann die unwahrscheinlichen Fälle ein. Aber auch darauf musst du vorbereitet sein, soweit das eben geht."

Colsman nutzt dafür Szenariotechniken: "Ich spiele das durch, indem ich dem Führungsteam und den Mitarbeitern Fragen stelle: Welche Krise könnte kommen? Pandemie? Flut? Ich frage dann: Wenn dies oder jenes passiert, was würdest du dann machen? Wie sieht unser Krisenstab aus? Was sind die Optionen im Krisenfall? Und ich brauche immer klare Aussagen und Informationen: Zahlen für den Eventualfall – wenn das passiert, wie bewegen sich dann GuV, Bilanz, Cash Flow?"

"Dabei lasse ich mich nicht auf Diskussionen ein. Dann sage ich: 'Jetzt ist nicht die Zeit für Diskussionen, jetzt brauchen wir die Fakten.' Fakten wie: Wer kommt in den Krisenstab? Was soll der Stab besprechen? Welchen PR-Mann brauchen wir im Stab? Welche Techniker? Welche Manager?"

Gute Führung ist Antizipation: "Das Unmögliche denken. Hier unterscheiden sich die Führungskräfte massiv. Viele durchdenken nicht das Undenkbare, weil sie das Ergebnis nicht wollen. Dann werden sie böse überrascht. Ich leite meine Mitarbeiter an, auch die unbeliebten Szenarien zu durchdenken und mit Eintrittswahrscheinlichkeiten zu belegen."

Führungsprinzipien in der Krise: Nähe und Erreichbarkeit

Bei den meisten Krisen geht es darum, sie so früh wie möglich zu erkennen. Jeder Brand startet klein und entwickelt sich dann schneller oder langsamer zum Großbrand. Es gilt, den Entstehungsbrand zu erkennen und zu löschen oder einzudämmen. So schafft man sich einen zeitlichen Vorsprung.

Das ist anders als im Normalbetrieb: "Man hat selbst viel mehr Selbstständigkeit während einer Krise, aber auch mehr Verantwortung", so Colsman. Denn im Normalbetrieb kann man sich eher Fehler leisten. In der Krise kann das tödlich sein. So gibt es auch mehr Teamverantwortlichkeit statt Eigenverantwortlichkeit. Andererseits: "In Extremsituationen und Krisen wird zu viel Freiraum leider oft auch als "ich bin verloren' empfunden und das macht vielen Menschen Angst."

"In der Krise muss ich viel erreichbarer sein; sofort Feedback geben; immer den Finger am Puls haben und ständig den Puls fühlen," so Colsman. "Es kann dann sein, dass etwas passiert, eine Kleinigkeit, und plötzlich läuft der Mitarbeiter emotional über und kann nicht mehr. Das muss man rechtzeitig erkennen. Dafür bedarf es ständiger Gespräche."

Unternehmen in wirtschaftlichen Extremsituationen steuern

Ein Unternehmen in wirtschaftlicher Extremsituation zu steuern ist laut Colsman wie einen Mehrspänner zu fahren: Man muss viele Rösser vor den Karren spannen, die Pferde müssen alle im selben Tempo traben und man hat bei einem Achtspänner sechzehn Zügel in der Hand: An welchen ziehen? Welche locker lassen?

Oft wird in wirtschaftlichen Extremsituationen und Krisen zentralisiert: "Damit wird die Organisation häufig gelähmt, weil 'zentral' leider auch meist 'langsam' bedeutet: Die ganzen Entscheidungen müssen erst ganz hoch und dann wieder ganz runter." Das kostet Zeit, die man in solchen Situationen nicht hat: "Das sind die Situationen, in denen man am meisten Speed braucht."

Es ist eine wichtige Balance, die man halten muss, zwischen Organisation und Tempo: Austarieren, wie beim Fahren eines Mehrspänners eben – "mit sehr viel Feingefühl: Wieviel Zentralisierung brauchen wir? Und wieviel Dezentralisierung? Das muss man sauber ausbalancieren – nicht zu viel und nicht zu wenig."

Agilität muss mehr sein als eine Methode

"Ob agile Unternehmensführung oder von oben gesteuert – viel wichtiger ist doch, wie man Menschen behandelt. Agilität ist eine Methode, Menschlichkeit eine Grundeinstellung zum Menschen und zur Führung." Es gehe dabei laut Colsmann vor allem darum, Menschen ernst zu nehmen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und sie wertzuschätzen. Colsman sagt: "Behandle die Menschen gut, denn niemand zwingt sie, ausgerechnet für dich zu arbeiten. Wenn es einem Leistungsträger menschlich nicht nachhaltig passt, dann geht er – und das kann nicht in meinem Sinne sein. Agilität ist gut und schön. Doch letztlich sind wir in einem Unternehmen nicht in einer Demokratie. Nicht die Mehrheit entscheidet, was passiert, sondern die beste Entscheidung muss umgesetzt werden."

Gute Führung setzt Menschenkenntnis voraus

Menschenkenntnis ist Grundlage eines jeden Führungsprozesses. Ein wirklicher Leader kann einschätzen, wie seine Mannschaft funktioniert und wie sie reagieren wird: "Andere Führungskräfte höre ich oft sagen: 'Ich weiß am besten wie es geht.' Leider funktioniert so eine Einstellung in einer Krise nicht sehr gut", so Colsmann. Und schließlich: "In Krisen brauchen Führungsteam und Mitarbeiter viel Kommunikation und Transparenz, aber stets mit Augenmaß. Denn Kommunikation ohne Deutung der Information ist ebenso schädlich wie das verbreitete Zuwenig."


Quelle: Teile des Artikels sind ein Auszug aus dem Buch "True Leadership – Führung in Extremsituationen", I. Hamm und W. von Bismarck, Hanser, 2020.

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