Kolumne: Warum die Bedürfnispyramide nicht funktioniert

So manchen Mythos in der HR-Welt konnte Professor Uwe P. Kanning schon in seiner Kolumne aufklären. Mit psychologischen Fakten und bissigem Humor klärt er über Mythen und Missstände im Bereich der Führung, Personalauswahl und Personalentwicklung auf. Heute erläutert er, weshalb die weithin bekannte Bedürfnispyramide von Abraham Maslow aus wissenschaftlicher Sicht keinen Mehrwert bietet.

Wenn wir nur eine Theorie der Psychologie nennen sollten, die weit über die Grenzen unserer Disziplin hinaus Aufmerksamkeit im Personalwesen und unzähligen Managementseminaren gefunden hat, dann wäre dies sicherlich die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow. Seit Jahrzehnten lernt nicht nur jede und jeder Studierende der Psychologie die Maslow'sche Theorie kennen, sondern wahrscheinlich auch fast jeder, der irgendein Fach studiert, das ihn später zielstrebig auf einen Arbeitsplatz im Personalwesen führt. Nun könnten wir uns eigentlich freuen, dass endlich einmal Forschungsergebnisse ernst genommen werden und wissenschaftlich gut abgesicherte Theorien die Handlungen der Praxis leiten. Doch leider ist dieser Gedanke viel zu schön, um wahr zu sein. Doch der Reihe nach.

Die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow in der Theorie

Maslow stellt eine Entwicklungstheorie der Motivation auf, die zunächst einmal nichts mit dem Personalwesen zu tun hat. Maslow war Therapeut und beschäftige sich mit grundlegenden Fragen der menschlichen Persönlichkeit. Seiner überaus populären Theorie zufolge lassen sich die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen sinnvoll in fünf Gruppen einteilen. Die Bedürfnisse sollen dabei aber keineswegs gleichzeitig unser Handeln bestimmen, sondern einem universellen Ablaufplan bestehend aus fünf Stufen folgen:

  1. Die Basis bilden die physiologischen Bedürfnisse des Menschen. Sie repräsentieren gewissermaßen die biologische Grundlage unseres Lebens. Wir streben danach, unseren Hunger zu stillen, Flüssigkeit zu uns zu nehmen und genügend Schlaf zu bekommen. Erst wenn diese Gruppe von Bedürfnissen einigermaßen befriedigt wurde, erwacht in uns das Streben nach mehr.
  2. In der zweiten Stufe geht es darum, ein Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Menschen wollen nicht auf der Straße Leben, vermeiden unnötige Gefahrensituationen oder investieren in Versicherungen und Altersvorsorge. Fühlen wir uns hinreichend sicher, steigen wir eine weitere Stufe in der Pyramide auf.
  3. In der dritten Stufe steht das Streben nach Zugehörigkeit und Liebe im Zentrum des Lebens. Menschen wollen nicht allein durchs Leben laufen, sondern Freundinnen und Freunde sowie Partnerinnen und Partner finden, vielleicht sogar eine eigene Familie gründen.
  4. Es folgt das Streben nach Achtung und sozialer Anerkennung, das bei dem einen vielleicht dadurch befriedigt wird, dass er in eine Führungsposition aufsteigt, während ein anderer sich in ein prestigeträchtiges Gremium wählen lässt.
  5. Die höchste Stufe ist erreicht, wenn ein Mensch alle zuvor genannten Bedürfnisse weitgehend befriedigt hat. Nun soll er der Theorie zufolge nach Selbstverwirklichung streben. Maslow ging davon aus, dass in jedem Menschen etwas schlummert, dass an diesem Punkt nach außen drängt. Je nach Anlage beginnt man damit, eine Oper zu komponieren, Bilder zu malen oder sich Theorien auszudenken.
  6. Erst viele Jahre später fügt Maslow noch eine sechste Stufe hinzu, die zumindest in der Wissenschaft jedoch kaum noch ernst genommen wurde: das Streben nach Transzendenz, also einem Übergang in ein nicht weltliches Dasein.

Wissenschaftliche Befunde und konzeptionelle Fehler

Soweit die Theorie. Jede Theorie ist aber leider nur so gut und nützlich, wie die wissenschaftlichen Befunde, die sie stützen und hier schneidet die Bedürfnispyramide schlecht ab. Zudem weist sie zahlreiche konzeptionelle Probleme auf:

  • Statt der fünf Bedürfnisse ließen sich mit gleicher Berechtigung acht oder zwölf Bedürfnisse unterscheiden.
  • Maslow glaubt, dass bei den vier ersten Bedürfnissen eine natürliche Obergrenze der Bedürfnisbefriedigung existiert. Eine Überbefriedigung soll als unangenehm erlebt werden. Dies scheint die Realität nicht widerzuspiegeln. Wie plausibel ist es beispielsweise, dass Politiker oder Musiker zu viel Anerkennung als negativ erleben?
  • Maslow geht davon aus, dass bei allen Menschen die Bedürfnisse in gleicher Weise hierarchisch aufgebaut sind. Dies ist weder empirisch begründet, noch ist es plausibel. Die Theorie kann beispielsweise nicht erklären, warum Menschen gesundheitliche oder wirtschaftliche Risiken eingehen, um sich sportlich oder künstlerisch zu verwirklichen.
  • Unmittelbar benachbarte Stufen sollten stärker miteinander korrelieren als Stufen, die weiter entfernt sind. Dies ist nicht der Fall.
  • Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden, sollten unser Denken und Streben stärker prägen als Bedürfnisse, die bereits befriedigt wurden. Dies lässt sich empirisch nicht belegen.

Wenn wir all diese Punkte bedenken, bleibt im Grunde nichts mehr übrig von der Theorie. In der Psychologie wird die Bedürfnispyramide daher seit Jahrzehnten nur noch als historischer Ansatz gelehrt, der sich letztlich nicht bewährt hat. Fundierte Handlungsanleitungen lassen sich hieraus nicht ableiten. Leider reicht es nicht aus, sich Theorien einfach auszudenken und Anhänger um sich zu scharen. Schade eigentlich.


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.

Schlagworte zum Thema:  Mitarbeitermotivation, Personalarbeit