Kolumne Personalentwicklung: Schatten-HR

Bei einem Beratungsprojekt traf unser Kolumnist Oliver Maassen in einem Unternehmen mit 10.000 Mitarbeitern auf gerade einmal zwei Personalentwickler. Das kann nicht sein, dachte sich Maassen, ging auf Spurensuche und entdeckte das Phänomen "Schatten-HR": HR-Strukturen außerhalb der Personalabteilung.

In einem Beratungsprojekt eines großen Mittelständlers wurde ich kürzlich um eine Einschätzung zur richtigen Größe der Personalabteilung gebeten. Nach einer kurzen Analyse der Ist-Situation war ich überrascht, weil die Personalfunktion jede  Benchmark unterbot: Es war die schlankste HR-Abteilung, die ich je gesehen hatte. Und doch hatte ich das Gefühl, dass das Unternehmen viel für seine Mitarbeiter tat, und viele Tools und Instrumente nicht nur vorhanden, sondern wohl auch gelebt wurden.

War das nun "Best Practise", die zukunftsweisende Form von HR, der Stein der Weisen? Ich war skeptisch und begann am Beispiel der Personalentwicklung tiefer zu graben.  Zunächst sprach ich mit den zwei Mitarbeitern der Personalentwicklung, die immerhin für rund 10.000 Mitarbeiter verantwortlich zeichneten. Schnell wurde dabei klar, dass die beiden einen klaren Auftrag hatten: das Abzuarbeiten, was von den Stäben der Divisionen gefordert wurde. Eine eigene Verantwortung für die Entwicklung von Führungskräften und Mitarbeitern hatte diese Personalentwicklungsabteilung nicht, sie wurde ihr weder zugesprochen noch von ihr reklamiert.

Aufgabe: Mitarbeiter auf Linie bringen

Also machte ich mich auf Entdeckungsreise in den Divisionen und fand ausgeprägte Stabsfunktionen, so unter anderem eine  Abteilung mit neun Mitarbeitern, deren Chef "Leiter Ressortentwicklung" auf seiner Visitenkarten stehe hatte. Auf meine Frage, ob er sich um die Strategie der Division kümmert , erklärte er mir, dies täte sein Kollege, der "Leiter Strategieentwicklung". Seine Aufgabe sei es, die "Mitarbeiter auf die Linie der Division zu bringen". Auch wenn ich die  Wortwahl etwas seltsam  fand, habe ich im weiteren Gespräch dennoch festgestellt: hier wird Organisations- und Personalentwicklung gemacht, dazu noch das variable Vergütungssystem gepflegt und ein eigenes divisionsspezifisches Personalcontrolling vorgehalten.

Im Gespräch mit dem Divisionsleiter rundete sich das Bild ab: Dieser hatte über die Jahre hinweg immer weniger Unterstützung durch HR erfahren, fand seinen HR-Kollegen in der Geschäftsleitung doof und hatte sich so sukzessive seine eigene Struktur aufgebaut. Bei meiner weiteren Recherche fand ich ähnliche Strukturen  in den anderen  Divisionen, zusätzlich hatten viele Abteilungsleiter ebenfalls Ministäbe, aus denen heraus klassische HR-Prozesse verantwortet wurden.

Auch wenn es extrem klingen mag, dieses Beispiel ist bei Weitem kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren sind viele der Kernaufgaben guter Personalarbeit aus den Personalabteilungen verschwunden. Dazu zählen neben den oft outgesourcten Funktionen in Service und Administration auch die zunehmend an Drittanbieter abgetretenen Prozesse  "select" und "develop" aus der HR-Wertschöpfungskette, also die Bereiche der Personalauswahl und Personalentwicklung. Und neben diesen quasi offiziellen Verschiebungen von Aufgaben raus aus HR und häufig auch raus aus dem Unternehmen,  gibt es den großen Graubereich als Ergebnis interner Machtspiele und  Umverteilungen, den ich als "Schatten-HR" bezeichne.

Führungsleitbild und -leitlinie nicht abgestimmt

Im Bereich der Personalentwicklung ist dieser Trend seit langem beim Thema "Training" zu beobachten. Galt es vor zehn Jahren noch als Kerngeschäft, eigene Trainer im Unternehmen zu haben, da nur diese für die Nähe zum Geschäft und die kulturspezifischen Elemente Gewähr standen, ist dieser Bestand an qualifizierten Lernexperten heute längst abgebaut; externe Dienstleister haben das Geschäft übernommen. Was mich als Geschäftsführer eines Beratungshauses, das eben auch Training und Coaching anbietet,  natürlich freut, macht mir als Protagonist einer zukunftsfähigen HR-Funktion auch Sorgen. Nicht, dass die Qualität externer Dienstleister schlechter wäre als die der internen Trainer, viel mehr sehe ich dort den kritischen Punkt, wo auch die Entscheidungs-  und Qualitätssicherungsfunktion  für Personalentwicklungsmaßnahmen abgeschafft wurde. Dann werden Personalentwicklungsdienstleistungen unkoordiniert von den Fachabteilungen eingekauft, Dienstleister nicht gesteuert und die Nachhaltigkeit des Lernens spielt oft keine Rolle. Verschlimmbessert wird das Ganze, wenn Einkaufsabteilungen den Prozess annektieren, die kein Pendant mehr auf Augenhöhe in der Personalfunktion haben.

Was für Training gilt, findet sich zunehmend auch im Bereich der Organisationsentwicklung. So berichtete mir ein Beraterkollege, dass er in einem Konzern von einem Divisionschef und seinem Leiter Personalentwicklung mit der Entwicklung eines Führungsleitbilds beauftragt wurde. Im Verlauf der Arbeit traf er einen Berater eines Mitbewerbers, der für eine Nachbardivision an der Erstellung von Führungsleitlinien arbeitete. Abstimmung oder konzernweite Steuerung durch eine funktionierende HR-Funktion: Fehlanzeige.

Schattenfunktionen sind teuer

Wenn die zentrale Koordination und damit die strategische Steuerung durch eine übergreifende HR-Funktion schwächelt oder nicht vorhanden ist, werden über kurz oder lang die Fachbereiche und deren Führungskräfte Ersatzmechanismen entwickeln und Mitarbeiter, beziehungsweise Teilkapazitäten mit diesen Aufgaben betrauen.  So entstehen Schattenfunktionen, die aus Sicht des jeweiligen Bereichsfürsten sinnvoll sind, weil sie seine Vorgaben schnell und gezielt umsetzen, aus Sicht des Gesamtunternehmens zumeist jedoch teuer und strategisch kontraproduktiv sind. Schnell werden so Kamine gezogen, die für die Aufgaben der Personal- und Organisationsentwicklung verheerend sein können, man denke nur an bereichseigene Talent-Management-Programme, Führungskultur et cetera.

Noch einmal zurück zu meinem Beratungsauftrag vom Anfang: Unsere Analyse ergab, dass alle gängigen Zielwerte zur optimalen HR-Funktion überschritten waren. Nahm man also alle Schatten-HR-Funktionen zusammen, war die Personalfunktion mehr als üppig ausgestattet.  Die meisten Strategieberater hätten nun mit einem gewaltigen  Struktur- und Effizienzprojekt begonnen. In Abstimmung mit der Geschäftsleitung haben wir uns für einen anderen Weg entschieden. In einem HR-Steering-Board werden alle Best Practices aus den Divisionen präsentiert, gemeinsam wird entschieden, welche Instrumente im gesamten Unternehmen ausgerollt werden. So findet über einen Prozess von 18 Monaten eine Überprüfung aller HR-Funktionen statt und Schatten-HR wird aufgedeckt, auf den Prüfstand gestellt und neu implementiert. Das ist auch eine Chance, die Personalentwicklung aus ihrem Schattendasein in ein neues Licht zu rücken. Erste Erfolge zukunftssichernder und einheitlicher Personalentwicklungs-Programme sind erkennbar und werden sehr positiv angenommen.

Kolumnist Oliver Maassen

Oliver Maassen ist seit 2013 Geschäftsführer der Pawlik Consultants GmbH. Zuvor war er unter anderem Bereichsvorstand und Personalchef der Unicredit Bank. In seinen früheren Funktionen verantwortete er die Bereiche Personal- und Organisationsentwicklung, Führungstrainings, Personalmarketing und Talent Management.