Kolumne Leadership: Wie fördert man offene Aussprachen?

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie fördert man offene Aussprachen?

Wie kommt es, dass Menschen in Unternehmen Missstände nicht ansprechen, mit Meinungen und Bedenken hinterm Berg halten und im Zweifel eher schweigen als reden? Wie kann es sein, dass im Vorzeigeunternehmen Wirecard systematisch betrogen wurde und keiner davon erfährt? Wie entsteht ein Dieselgate bei Audi und VW, wo Mitwisser nicht reden oder nicht gehört werden?

Herausforderung "Voice-Verhalten"

Die Wissenschaft hat diese und weitere Fragen gut erforscht und darauf eine Antwort: Es mangelt bei den Beteiligten häufig an "Voice-Verhalten" – also der Bereitschaft, die Stimme zu erheben, um Verbesserungen zu erreichen. Und hier sind quasi kriminelle Machenschaften nur die Spitze des Eisbergs an möglichen Anlässen.

"Voice-Verhalten" umfasst die ganze Bandbreite von Äußerungen zu eigenen Ideen, Befindlichkeiten, Bedenken sowie Meinungen durch alle und jeden im Unternehmen. Wo solches Verhalten selbstverständlich ist, da werden Dinge offen angesprochen, da hat niemand Angst, Schaden zu nehmen oder sanktioniert zu werden, wenn sie sich kritisch oder er sich mit gewagten Ideen äußert. Hier sind die Arbeitszufriedenheit und die Innovationsrate höher, Entscheidungen werden schneller und besser getroffen.

Kulturelle Reifegrade unterscheiden

"Voice-Verhalten" tut Firmen also gut. Und Mitarbeitern auch. Wie aber dieses Verhalten fördern? Hier gilt es zu unterscheiden, um welche Führungskultur und welchen Reifegrad in Sachen "Voice-Kultur" es sich im jeweiligen Unternehmen handelt.

Da gibt es zum einen die sehr formale und hierarchische Führungskultur. Sie lebt vom Vorbild dominanter Führungskräfte. Wenn diese fördern wollen, dass ihre Mitarbeitenden sich vielfältig einbringen und auch in heiklen Angelegenheiten offen ihre Meinung sagen, dann sollten sie ( wie ein Team um den Organisationspsychologen Professor Felix Brodbeck schön zusammengestellt hat)

  • deutlich und regelmäßig Ideen und Kritik ihrer Mitarbeitenden einfordern,
  • offene Rede als Leistungskriterium definieren und belohnen,
  • ein angstfreies und vertrauensvolles Arbeitsklima schaffen,
  • Verantwortung und Autonomie ihrer Mitarbeitenden fördern und
  • von einem anweisungsorientierten Führungsstil auf einen eher transformationalen, inspirierenden und Orientierung gebenden Führungsstil umstellen.

Doch selbst wenn die Chefs diese Haltung vermissen lassen, haben die Mitarbeiter eine Verantwortung. Sie dürfen gerade zu Missständen nicht schweigen. Ob man das öffentlich tut, gilt es dabei allerdings sorgsam abzuwägen. Mitarbeiter, die das wagen, sollten dabei drei Dinge beachten.

  1. "Voice-Verhalten" kann sich in der Benennung von Problemen oder von Lösungen zeigen. Wer sich im größeren Rahmen äußert, sollte immer auch Lösungen präsentieren. Studien haben gezeigt, dass solcherart Kritik eher verziehen wird und oft bei Kollegen und Chefs zu Anerkennung führt.
  2. Je größer das Problem oder der Missstand, desto gefestigter sollte das Ansehen und die Position derjenigen Person sein, die es benennt. "Choose your battles and your time", sagen die Angloamerikaner dazu.
  3. Mit dem Kopf durch die Wand ist gerade bei heiklen Botschaften keine gute Strategie. Informationen einholen, Koalitionen schmieden, Sicherungsnetze aufspannen: Das gehört zum Handwerk all jener, die Missstände offen angehen wollen. Auch hier macht der Ton die Musik. Wer Probleme benennt, sollte sich der Fakten sehr sicher sein, seine Emotionen im Griff behalten und sich auf erwartbare Gegenreaktionen vorbereiten.

Ombudsstellen und Ideenmanagement als Notlösung

Um diese hohen Hürden abzusenken und vermeintliche Nestbeschmutzer vor Schaden zu bewahren, haben Firmen anonyme Wege eingerichtet, auf Missstände hinzuweisen. Klassische Instrumente sind Meldestellen, bei denen "Whistleblower" ihr Anliegen geschützt vorbringen können. Das Pendant dazu im Bereich des Ideenmanagements sind Ideenbriefkästen oder formale und incentivierte Prozesse, um die Ideen der Mitarbeiter einzusammeln. Beides sind eher Eingeständnisse, dass es in Sachen einer "Voice-Kultur" nicht läuft, wie es laufen sollte und könnte. Aber immerhin.

Dann gibt es noch Unternehmen, die zunehmend "auf Augenhöhe" und selbstorganisiert arbeiten – aber dennoch mit der Herausforderung zu kämpfen haben, dass manche Dinge nicht offen angesprochen werden. Hier zeigt sich, dass nicht für alles nur formale Führungskräfte verantwortlich sind. Wenn Menschen mit ihren Meinungen, Ideen und Gefühlen hinter dem Berg halten, dann kann das schlicht auch an Schüchternheit, Introversion oder an der Erziehung der Personen liegen - oder am Druck, der aus dem Verhalten einer Gruppe erwächst.

"Psychologische Sicherheit" als Schlüssel

So gesehen bauen daher alle an einer "Voice-Kultur" im Unternehmen. Verhaltenswissenschaftler haben unter dem Stichwort "psychologische Sicherheit" erforscht, wie jeder im Alltag dazu beitragen kann, dass jeder sich angstfrei in Diskussionen und Entscheidungen einbringt. Es handelt sich um leider immer noch nicht selbstverständliche Tugenden, wie zum Beispiel Verständnis und Empathie für andere zu zeigen, sie in Diskussionen und Entscheidungen einzubeziehen sowie immer klar in der eigenen Position, aber offen für Kritik am eigenen Standpunkt zu sein.

Wird solches Verhalten auf allen Ebenen im Unternehmen gelebt, muss sich über Whistleblowing, Ombudsstellen, Kummerkästen und bürokratisches Ideenmanagement bald niemand mehr Gedanken machen.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.