Kolumne Leadership: Ist Fachwissen zweitrangig?

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Ist Fachwissen für Führungskräfte wirklich zweitrangig?

Können 298 Personalfachleute irren? Ich meine ja. Deshalb wende ich mich in dieser Kolumne einer Überzeugung zu, die mir in meinem Alltag immer häufiger begegnet. Sie lautet: So ziemlich das letzte, was Führungskräfte heute brauchen, ist Fachwissen.

Das jüngste Beispiel für diesen Irrtum: eine Umfrage des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) mit dem Titel "Führung im neuen Normal". Das Ergebnis: Von den abgefragten zwölf Führungskompetenzen ranken die 298 Befragten "Vertrauen" auf Platz eins und "Fachwissen" auf den letzten Platz.  

Menschenversteher statt Fachexperten gesucht

Sie sind damit nicht allein. Auch Personalvorstände, Berater und Evangelisten von New Work gehen mit der Botschaft hausieren, man habe zu lange zu viele Fachexperten in Führungspositionen gehoben. Gebraucht aber würden Veränderungsagenten, Menschenentwickler, Teamcoaches, Macher und Visionäre. Das Ideal des "servant leader" und der begeisternden "transformationalen Führungskraft", mit denen ich mich in dieser Kolumne auch schon befasst habe, schwingt da immer mit.

Wo aber ist das Problem an dieser modischen Erzählung? Und wo kommt sie eigentlich her? Blicken wir zuerst auf die zweite Frage. Es mag in der Tat sein, dass in einigen Unternehmen immer noch die oder der fachlich Beste automatisch auf die freie Führungsposition gehievt wird. Das kann in der Tat in die Hose gehen, wenn mit der Fachexpertise Besserwisserei oder Micromanagement einhergehen. Oder wenn die Person kein Händchen fürs Motivieren, Anleiten, Entwickeln hat. Aber ist das ein Naturgesetz bei fachlich fitten Menschen?

Kommen Topexperten, aber Führungsflaschen an solche Positionen, muss gefragt werden: Wo war HR und seine Personalentwicklung? Was war eigentlich Thema im Assessment Center und wozu all die Eignungstests? Wenn man aber nicht jedem Fachexperten per se eine Führungseignung abspricht, stellt sich die Frage: Ist es so schlimm, eine fachlich fitte Führungskraft zu haben? Nein, im Gegenteil.

Fünf Gründe, warum "Führen und Folgen" auch Fachwissen voraussetzt

Kompetenz und Fachwissen sind in vielerlei Hinsicht die Voraussetzung dafür, dass Führung gelingt und Menschen bereit sind zu folgen. Hierfür fünf Beispiele.

Erstens: Vertrauen (das in der oben genannten Umfrage auf Platz eins landete). Wie bereits in einer anderen Kolumne ausgeführt, ist gerade Kompetenz eine der drei Voraussetzungen dafür, dass Menschen einer anderen Person vertrauen: "Diese Person kann und weiß, was hier gebraucht wird. Ihr vertraue ich mich gerne an. Ihr folge ich." Die beiden anderen Faktoren, damit Follower Vertrauen schenken, sind Wohlwollen und Integrität der Person.

Zweitens: Autorität. Auch hier ist die Substanz der Person, also ihr Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung, ein wesentlicher Faktor dafür, dass andere dieser Person Autorität zuschreiben und bereit sind, ihr zu folgen. Die beiden anderen Dimensionen habe ich an anderer Stelle als Habitus und Status beschrieben.

Drittens: Wie Forschung zur Frage der "leadership emergence" herausgearbeitet hat, ist Expertise auch einer der wesentlichen Aspekte, die zum Beispiel eine selbstorganisierte Gruppe dazu bringt, einer Person aus ihrer Mitte die Führung anzutragen.

Viertens zeigt Forschung zur Frage, woran Führungskräfte scheitern (die sogenannte "Derailment-Forschung"), dass auch hieran oft fehlendes Fachwissen schuld ist. Fehlende Expertise mindert die Urteilsfähigkeit in businessrelevanten Fachfragen und leistet dem unter Führenden weit verbreiteten Übel der Selbstüberschätzung Vorschub.

Fünftens sorgt Fachwissen dafür, dass man von Experten Ernst genommen und besser verstanden wird. Auch lassen sich nur auf dieser Basis Menschen fachlich weiterentwickeln. Wären die genannten zwischenmenschlichen Aspekte für die Führungsaufgabe ausreichend, dann müsste Trainerlegende Jürgen Klopp einen exzellenten Dirigenten und Stardirigent Teodor Currentzis einen herausragenden Fußballcoach abgeben.

Wie sich Führung von Fachthemen entkoppelt hat

Halten wir also fest: Ohne Kompetenz und Wissen, nennen wir es Sachautorität, nützt Führungswilligen auch das größte Führungstalent nichts. Wie aber konnten diese grundlegenden Zusammenhänge in Vergessenheit geraten? Mein Eindruck ist: Weil Führung in den Augen vieler nur noch als ein Job und eine Position gesehen wird – und meist in Regionen verortet wird, die sich von Fachthemen sehr weit entfernt haben.

Natürlich kann eine Vorstandsvorsitzende nicht mehr alle Disziplinen, über die sie die Aufsicht führt, beherrschen. Dennoch diskutieren Aufsichtsgremien von Maschinenbauunternehmen weiterhin zurecht, ob sie eine Finanzfachfrau, einen Marketingprofi oder doch besser eine Ingenieurin an ihre Spitze holen.

Führungsautorität braucht Sachautorität

Und was bedeutet das nun praktisch? Wenn wir weiterhin am Gedanken festhalten, dass sich Führungsfertigkeiten entwickeln lassen, dann erhält Fachwissen eine wesentlich höhere Bedeutung, als ihm die genannte Studie zubilligt. Fachliches Wissen und Businessverständnis, Glaubwürdigkeit und Stallgeruch lassen sich – anders als Führungsfertigkeiten – nicht einfach antrainieren. Sie werden erst auf einem langen Weg erworben und sollten daher mitgebracht werden, wenn Menschen eine Führungsaufgabe übernehmen.

Wir sollten daher mit dem Narrativ vom unnötigen Fachwissen mit Blick auf Leadership sorgsamer umgehen. Und wir sollten nach wie vor dafür sorgen, dass Führungsautorität immer auch ein Stück weit mit Sachautorität einhergeht.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung, New Work