Kolumne Leadership: Eingeschworene Gemeinschaften

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie viel Korpsgeist braucht ein Team?

Im Volksmund gilt: Übereinstimmung und Zusammenhalt in Teams ist gut. Gruppen, die hier besonders glänzen, erhalten das Prädikat "eine eingeschworene Gemeinschaft"! Sie dokumentieren das gerne durch einheitliche Sprache, ähnliches Auftreten, enge Verbundenheit, geteilte Überzeugungen. Doch ist solche Einmütigkeit im Unternehmenskontext wirklich zielführend? Lange galt in der einschlägigen Forschung die Auffassung: Im Gegenteil, zu viel Korpsgeist schadet und führt zu schlechten Entscheidungen.

Die fatalen Folgen von "Gruppendenken"

Das Phänomen, das daran Schuld sein soll, heißt "Gruppendenken" (groupthink). Es besagt, dass in eben jenen "eingeschworenen Teams" der Konformitätsdruck und das Harmoniebestreben überhandnehmen und zu Fehlentscheidungen führen. Häufig zitierte Beispiele für Desaster infolge von Gruppendenken sind die fehlgeschlagene Invasion der Schweinebucht 1961, der Challenger-Absturz von 1986 oder die Swissair-Pleite von 2002.

Und in der Tat: Viele von uns kennen die Situation, dass Gruppen so stark zusammenhalten und ihre Mitglieder sich so einander verbunden fühlen, dass Widerspruch oder Kritik an einer Mehrheitsmeinung als Vertrauensbruch oder Hochverrat erscheinen. Doch gerade neuere Forschung zum Gruppendenken hat gezeigt: Der Volksmund liegt gar nicht so falsch. Es ist nicht der Zusammenhalt, nicht die Verbundenheit unter den Gruppenmitgliedern, die zu den Verwerfungen durch Gruppendenken führt. Es sind eher Fragen der Zusammensetzung einer Gruppe sowie der Werte und Einstellungen ihrer Mitglieder, die das ungute Gruppendenken auslösen.

Korpsgeist und Zusammenhalt sind nicht das Problem

Deshalb halten wir fest: Korpsgeist ist gut, denn er schweißt Gruppen zusammen und bietet ihnen genau jenen Strang, an dem sie gemeinsam ziehen sollen. Gerade Management-Boards, gespickt mit durchsetzungsstarken und auf ihren Bereich fokussierten Alpha-Tieren, könnten mehr Zusammenhalt und Korpsgeist vertragen. Teambuilding ist daher gerade dort von besonderer Bedeutung, wo Gruppen gemeinsam entscheiden sollen. Dass dies in Zeiten der "Selbstorganisation" und von "partizipativer", "kollektiver" und "verteilter" Führung immer häufiger auch außerhalb von Führungsgremien der Fall ist, habe ich in dieser Kolumne mehrfach dargelegt.

Auf Vielfalt kommt es an

Allerdings müssen Korpsgeist und Zusammenhalt auf einem anderen Fundament stehen, als Regimenter, Burschenschaften oder Elitezirkel das lange praktizierten: Nicht Konformität, Einmütigkeit und Gleichheit dürfen Gruppen prägen, sondern die Lust an der Originalität, die Neugier auf Widerspruch und die Wertschätzung von Vielfalt an Perspektiven, Kompetenzen und Einstellungen. Mit diesem psychologischen Aspekt einher geht ein zweiter, struktureller Aspekt: Gruppen sollten nicht nur mit Blick auf ihr kreatives Potenzial eher heterogen zusammengesetzt sein - auch auf Entscheidungen hat die Vielfalt einen positiven Einfluss.

Aber gibt es so etwas in Unternehmen wirklich: Einheit in der Vielfalt, Zusammenhalt trotz Widerspruchsgeist? Sehr wohl! Der in dieser Kolumne bereits früher zitierte Organisationspsychologe der Wharton Business School, Adam Grant, beleuchtet in seinem lesenswerten Buch "Originals" (2016) ausführlich die Praktiken beim Investmenthaus Bridgewater Associates, die viel zum Erhalt einer solchen Kultur tun. Eine Episode, die mich besonders beeindruckt hat: Der CEO, der eine private Mail, in der eine Mitarbeiterin ihn kritisiert, von sich aus öffentlich macht, der Mitarbeiterin für den Widerspruch dankt (obwohl er ihn inhaltlich nicht gerechtfertigt findet) und sich den Vorwürfen stellt. Ein eindrückliches Beispiel von "leading by example".

Widerspruch in eingeschworenen Teams verankern

Wer also Zusammenhalt und damit engagierte, kreative, lernfähige und aufeinander eingeschworene Teams haben und dennoch dem Gruppendenken und seinen fatalen Folgen vorbeugen will, dem sei – heute mehr denn je – folgendes geraten:

  • Gruppen möglichst divers zusammenstellen.
  • Widerspruch einfordern und wertschätzen.
  • Drucksituationen vermeiden, wo Konformität schlicht die einzige Möglichkeit ist, im gegebenen Rahmen an Zeit oder Ressourcen zu Entscheidungen zu kommen.
  • Notfalls einen "advocatus diaboli" berufen, um Mehrheitsmeinungen herauszufordern.
  • Zurückhaltend argumentieren und agieren – gerade wenn frau oder man an inhaltlicher Kompetenz oder formalem Status die Gruppe überragt.
  • Bei Entscheidungen auch Sachverstand von außerhalb der Gruppe einbeziehen.

Wer diese Tipps im Alltag beherzigt, wird das scheinbar Unmögliche möglich machen: Zusammenhalt ohne Anpassungsdruck. Dazu aufgerufen sind, wie immer in meiner Kolumne, nicht nur formale Führungskräfte, sondern alle im Unternehmen, die Führen und Folgen als kollektive Herausforderung begreifen.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.