Kolumne Leadership: Der tiefere Grund von Führungsscheu

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Will und kann jeder führen?

Regelmäßige Leser meiner Kolumne kennen mein Mantra: "Jeder muss führen und folgen!" Besonders in Zeiten, in denen "Führung zu wichtig ist, um sie nur Führungskräften zu überlassen" (wie das die Autoren des Buches "Das kollegial geführte Unternehmen", Bernd Oestereich und Claudia Schröder, schön ausgedrückt haben). Denn die Welt ist zu komplex geworden, als dass ihr ein Alleinentscheider noch gerecht werden könnte.

Was uns am Folgen hindert

Aber ist das realistisch, dass jeder führt und folgt? Beim Folgen sind wir uns wahrscheinlich schnell einig. Das ist keine ausgefallene Kunst, sondern eher eine Frage der Einstellung. Schwer tun sich damit eigentlich nur Chefs, die alles besser wissen und ihr Selbstwertgefühl daran hängen, alles zu bestimmen. Und ja, mit dem Folgen fremdeln auch alle jene Mitarbeiter, die es für unter ihrer Würde halten, zu tun, was andere vorgedacht haben. Das klingt für sie nach Fremdbestimmung und nicht nach Selbstentfaltung – was bei Lichte besehen Quatsch, aber leider sehr verbreitet ist. (Lesen Sie dazu auch meine Kolumne "Was ist eigentlich Followship?")

Aber das Führen? Hier bleibe ich dabei: Das können mehr Menschen als die, die formale Führungsrollen innehaben. Ich räume allerdings ein, dass sicher nicht alle führen können. Denn Führung umfasst in der Tat ein enormes Set an Fähigkeiten: im Umgang mit Menschen, in der Bewertung von Sachverhalten, in der Selbstführung und vieles mehr. Hinzu kommt: Nicht alle wollen führen. Im Gegenteil. Wie Züricher Forscher um den Doyen der Verhaltensökonomie Ernst Fehr herausgefunden haben, will sogar nur eine Minderheit führen. Wie kommen die Forscher darauf?

Was uns am Führen hindert

Führen heißt für sie: Entscheidungen treffen und Verantwortung für andere übernehmen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Gerade mit letzterem tut sich die Mehrheit schwer. In Experimenten fanden Fehr und Kollegen zweierlei heraus. Erstens: Die Bereitschaft, diese Verantwortung zu tragen, scheuen Menschen umso mehr, je unsicherer die Rahmenbedingungen und die Effekte der Entscheidung sind ( siehe Artikel "Computational and neurobiological foundations of leadership decisions", August 2018).

So weit, so trivial. Erstaunlich ist aber die zweite Erkenntnis: Diese Verantwortung schultern Menschen leichter, wenn die Auswirkungen ihrer Entscheidung nur die eigene Person angehen. Sind andere davon betroffen, versuchen Menschen in der Regel noch mehr Sicherheit zu erlangen oder, wenn das nicht gelingt, die Entscheidung zu delegieren. Dieses Phänomen nennen die Forscher "Verantwortungsaversion" ("responsibility aversion"). Diese Aversion hat jeder von uns – sie ist aber nachweislich bei Menschen, die in  einschlägigen Tests ihre Führungskraft unter Beweis gestellt haben, geringer ausgeprägt als bei allen anderen.

Warum wir zögern, für andere zu entscheiden

Das gilt übrigens laut der Forscher unabhängig davon, ob diese Menschen prinzipiell eher dazu neigen, alleine zu entscheiden (also top-down, autoritär zu führen) oder andere einzubeziehen (also egalitär, partizipativ zu führen). Entscheidend für den Grad der Verantwortungsaversion ist allein die Tatsache, ob die Person deutlich mehr Sicherheit sucht, wenn sie für andere entscheidet, als wenn sie nur für sich selbst entscheidet.

Halten wir also fest: Nicht jeder will führen – auch aufgrund der Vorbehalte, Verantwortung in unsicherer Lage für andere zu übernehmen. Aber bedeutet das auch: All die Menschen mit Verantwortungsaversion können und sollen nicht führen? Ich meine: nein – und habe dafür zwei Gründe.

Was daraus für Führung und Zusammenarbeit folgt

Erstens: Führen ist mehr als "nur" entscheiden und Verantwortung übernehmen. Auch eine Entscheidung herbeizuführen ist Führung. Im Prozess der Entscheidungsfindung sollten deshalb alle Beteiligten mit Wissen, Erfahrung und besonderen Einsichten ermutigt werden, die Stimme zu erheben und andere hinter sich zu bringen – selbst dann, wenn sie für die Entscheidung letztlich die Verantwortung scheuen. Hier deutet sich auch das sinnvolle Zusammenspiel von formalen und fallbezogenen Führungsrollen an, wie sie in vielen Fällen schon gelebt wird: Die formale Führungskraft übernimmt die Verantwortung für eine Entscheidung, diejenigen mit dem besten Wissen, der meisten Erfahrung treiben den Entscheidungsprozess.

Zum anderen folgt für mich aus dem Züricher Befund: Wir sollten an unserer Verantwortungsaversion arbeiten. Denn, so betonen die Forscher, Verantwortungsaversion ist keine Charakterfrage, sondern eher Einstellungssache. Wir stehen uns also quasi selbst im Weg. Denn Hand aufs Herz: Warum sollte eine Entscheidung, die in ihren Auswirkungen für einen selbst akzeptabel scheint, für andere nicht auch gut genug sein? Diese Sicht verändert vieles.

Verantwortungsaversion darf uns nicht bremsen

Je mehr Menschen wir also dazu befähigen und ermutigen, zu führen und auch unter Unsicherheit für andere zu entscheiden, umso größer sind die Chancen, dass diejenigen mit dem besten Wissen, der meisten Erfahrung und den besten Ideen in spezifischen Fragen auch das Heft in die Hand nehmen.

Das hat drei positive Effekte. Erstens: Wir bekommen bessere Entscheidungen – denn was hilft es uns, wenn couragierte Menschen mit wenig Verantwortungsaversion schlechte, sprich uninformierte Entscheidungen verantworten? Zweitens: Wir verteilen Führung jeweils an die, die das beste Wissen, die meiste Erfahrung haben. Und wir erhöhen drittens die Zahl der Menschen, die bereit sind, Verantwortung auch für andere zu übernehmen. Ein guter Deal, wie mir scheint.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung