Kolumne Leadership: Bizarres Lehrstück für Machtdemonstration

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie umgehen mit Despoten?

Wladimir Putin hält die Welt in Atem. Sein Einmarsch in die Ukraine fordert die Weltgemeinschaft heraus. Wohl niemand hält den russischen Präsidenten noch für einen lupenreinen Demokraten. Ihn als lupenreinen Despoten zu betrachten, trifft es eher.

Davon zeugt auch eine Szene in den Tagen vor dem Einmarsch. Hier führte Putin vor laufenden Kameras vor, wie man andere einschüchtert und demütigt. "Bizarre Machtdemonstration" nannte es der Spiegel. Doch solcherlei Machtdemonstration ist nicht nur Staatschefs vorbehalten. Sie findet – unter anderen Vorzeichen und in weniger dramatischen Gemengelagen – durchaus auch in Managementreportings oder Vorstandsetagen statt. Wie sie funktioniert, sollten alle, die führen und folgen, verstehen. Deshalb ist sie heute Thema in dieser Kolumne.

Demütigung im russischen Sicherheitsrat

Was war passiert? Bei der Sitzung des russischen Sicherheitsrats ging es darum, ob Russland die zwei Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängig anerkennen soll: der entscheidende Schlüssel, um die darauf folgende Invasion in die Ukraine zu rechtfertigen. Der Rahmen war vom Kreml bewusst gewählt und beinhaltete alle Zutaten, um Putin in seiner Machtfülle zu inszenieren. Ein riesiger Raum, an dessen zentraler Stelle Putin an einem herrschaftlichen Schreibtisch präsidiert. Die Sicherheitsberater sind in mindestens zehn Metern Abstand auf kleinen Stühlen platziert. Sie müssen einzeln an ein Rednerpult vortreten und ihre Einschätzung der Lage vortragen.

Einschüchterung ist ein virtuoses Spiel mit Sprache, Gestik, Mimik, Raum und Zeit." – Randolf Jessl


Beim Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergei Naryshkin nahm dieser Rapport absurde Züge an. Der offensichtlich verunsicherte Geheimdienstchef verhaspelte sich mehrfach und wurde von Putin regelrecht vorgeführt. Wer hier Koch und wer Kellner ist, war für alle sichtbar. Doch wie schaffen es Despoten andere einzuschüchtern, klein und gefügig zu machen? Es ist ein virtuoses Spiel mit Sprache, Gestik, Mimik, Raum und Zeit.

Drei Ebenen der Machtdemonstration

Die wichtigste Komponente ist der Raum. Der große Abstand vom Präsidententisch zum Rednerpult ist sorgfältig gewählt. Der enge Stuhl, das Stehpult werden in dieser Inszenierung zugewiesen. Das Ensemble täuscht noch nicht einmal Gemeinschaft vor. Jede (es gab nur eine Frau) und jeder im Gremium sitzt für sich allein und nimmt allein Stellung. Ein Gegengewicht der Gruppe zur privilegierten Stellung des Despoten kann so gar nicht entstehen. Das letzte Wort hat jeweils Putin.

Die zweitwichtigste Ebene ist die Kombination aus Sprache, Mimik und Gestik. Mit ihrer Hilfe demonstriert der Despot seine Überlegenheit und führt sein Gegenüber vor. Putin fragt mit kantigen, knappen Sätzen. Er belehrt Naryshkin, worum es eigentlich geht und worum nicht. Er unterbricht. Er fordert ihn auf, konkret zu werden. Er schaut amüsiert bis verächtlich zur Seite. Mit jedem dieser Manöver scheint der Geheimdienstchef mehr in sich zusammenzufallen und den Faden zu verlieren.

Wer bestimmt den Ton und das Tempo?

Und dann ist da noch die Zeit. Auch sie ist ein beliebtes Mittel, mit dem Despoten ihre Macht beweisen. Sie setzen den Termin, sie definieren die Sprechzeit, sie bestimmen das Tempo. Auch das war zu spüren. Putin gab das Stakkato aus Frage und Antwort vor, Naryshkin verhedderte sich in längeren Ausführungen. Den kurzen Dialog beendet Putin verächtlich mit den Worten: "Setzen Sie sich."

In der Schule hätte es geheißen: "Setzen, sechs." Doch es war der Sicherheitsrat mit den mächtigsten und versiertesten Fachleuten, die Putin hat. Wer die Instrumente des Despoten beherrscht, kann aus gestandenen Machos verunsicherte Memmen machen. Denn ihr Machtspiel schüchtert ein und verunsichert das Gegenüber. Es kratzt, wenn es dauerhaft praktiziert wird, am Selbstwertgefühl und der Selbstsicherheit des anderen.

So kontern Sie Machtdemonstrationen

Doch muss das sein? Nein, denn Machtdemonstrationen lassen sich kontern: sofern man akzeptiert, dass es allein darum geht, die Rang- und Hackordnung abzustecken. Die Absicht, vernünftig über die Sache zu reden, muss zurückstehen. Was also hätte Naryshkin tun können?

Das Wichtigste: Seine Emotionen im Griff behalten. Pokerface, ruhige Stimme, fester Blick. Kurzen Fragen mit kurzen Antworten begegnen. Keinen eigenen Stil durchsetzen, sondern auf Augenhöhe dem Ton und Stil Putins begegnen. Und auf keinen Fall sich entschuldigen oder rechtfertigen. Dann aber gäbe es noch einen Trumpf, den in dieser Situation nur ausspielt, wer im Machtspiel einigermaßen erfahren ist. Ihm zugrunde liegt der Trick: Souverän das vorgegebene Muster brechen, die Inszenierung unterlaufen.

Darum geht's: Den Raum zurückerobern

Man stelle sich bitte Folgendes vor: Naryshkin hört den Vorwurf und das abschätzige "darum geht es hier doch gar nicht", entfernt sich ruhigen Schrittes von seinem Pult und bewegt sich gemessen auf Putin zu. Am Präsidententisch angekommen, antwortet er im Stehen dem sitzenden Putin freundlich lächelnd: "Da haben Sie Recht, mein Präsident." Naryshkin hätte souverän Raum zurückerobert, das Tempo bestimmt und eine kleinlaute Zustimmung in eine mächtige Geste verwandelt. Auch einem Despoten vom Kaliber Putins wäre die Kinnlade heruntergefallen.

Was immer auch hinter der verstörenden Szene noch stand: die bizarre Machtdemonstration wäre so unterlaufen worden. Wo immer Sie es mit machtversessenen und herrschsüchtigen Menschen im Unternehmenskontext zu tun haben, möge Ihnen dieses kleine Beispiel jedenfalls helfen, sich souveräner als der Geheimdienstchef aus der Klemme zu befreien.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der  Kommunikations - und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung