Kolumne: Führung zwischen Machiavelli und Mutter Teresa

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie selbstlos müssen Chefs sein?

"Edel sei der Mensch, hilfreich und gut." - das forderte schon der Dichter Johann Wolfgang von Goethe. In der Führungsdebatte hat diese Forderung derzeit Hochkonjunktur. Der "servant leader" ist der Held der modernen Arbeitswelt. Er nimmt sich maximal zurück und stellt sich ganz in den Dienst der Mannschaft. Eine Führungskraft irgendwo zwischen Mutter Teresa (der aufopferungsvollen Ordensschwester in den Slums von Kalkutta) und dem Preußenkönig Friedrich II. (dem "ersten Diener seines Staates" und Kritiker der knallharten Führungslehren des Renaissancegelehrten Machiavelli).

Managementkoryphäe Pfeffer predigt Härte und Eigennutz

Aber ist das realistisch? Bringt das Erfolg? Mitnichten, sagt die Managementkoryphäe Jeffrey Pfeffer. Mit vielen Daten, Fakten und mit Forschung untermauert der Stanford-Professor der Organisationstheorie seine Kritik an Leadership-Trainern und geschönten Managerbiographien, die solch romantische Vorstellungen befeuern. Die Wahrheit sei: Unerbittliches Machtstreben, politisches Geschick und hartes Durchsetzungsvermögen machen erfolgreiche Leader aus. Wie man das lernt und lebt, beschreibt Pfeffer in Büchern wie "Macht", "Leadership B.S." oder "Power Management". Der oben genannte Machiavelli hätte seine Freude daran gehabt.

Organisationspsychologe Grant preist die Selbstlosigkeit

Ist damit alles gesagt? Von wegen! Im krassen Gegensatz zu Pfeffer positioniert sich der Shooting Star der Organisationspsychologie, Adam Grant. Der junge Professor an der Wharton Business School untersucht Geben und Nehmen in der Wirtschaftswelt. In seinem gleichnamigen Bestseller zeigt Grant – ebenfalls gestützt auf umfangreiche Forschung und praktische Fallbeispiele: Großzügigkeit, Bescheidenheit und Selbstlosigkeit zahlen sich aus. In jeder Lebenslage, aber auch und besonders für Menschen, die führen.

Was tun mit diesem Widerspruch?

Was also stimmt? Ich persönlich meine: beides. Aber in unterschiedlichen Kontexten, die in dieser Kolumne immer wieder Thema waren. Wer in Hierarchien aufsteigen und über andere bestimmen will, sollte Pfeffer lesen. Er ist die Instanz für die vertikale Führungswelt und dafür, wie man in ihr Karriere macht. Wer auf Augenhöhe andere für seine Sache gewinnen muss, fährt mit Grant besser. "Geben und Nehmen" hat das Zeug, die Bibel der horizontalen Führungswelt zu werden.

Erfolg in der vertikalen Welt

Worin also unterscheidet sich die vertikale von der horizontalen Welt? Antwort: Sie unterscheiden sich in der Art, wie erfolgreich Einfluss auf andere genommen wird. Das geschieht in der vertikalen Welt der Hierarchien und der formalen Führungspositionen über Dominanz. Jeffrey Pfeffer listet folgende Erfolgsfaktoren auf:

  • Sich hervortun und absetzen.
  • Den eigenen Vorteil und das Rampenlicht suchen.
  • Seine Sicht durchsetzen und die eigenen Spielregeln etablieren.
  • Taktieren und paktieren – gerade mit Mächtigen, denen man schmeicheln und gefallen soll.
  • Selbstsicherheit, Kraft und Entschlossenheit ausstrahlen oder auch vortäuschen.
  • Andere die eigene Macht und Überlegenheit spüren lassen, sie herausfordern und hinterfragen, eher Ärger als Enttäuschung ausstrahlen.
  • Auf Statussymbole setzen.
  • Machtvoll sprechen (Ich-Botschaften, kraftvolle Bilder, laute Stimme, eigene Erfolge unterstreichen und vieles mehr).

Warum braucht es das? Weil sich in der vertikalen Welt Menschen mit Kraft nach vorne und andere dabei beiseite schieben müssen. Denn hier regiert das Nullsummenspiel: Was der eine bekommt, kann der andere nicht haben (Posten, Ressourcen, Anerkennung). Auch den Mächtigen schmeicheln nützt, denn sie haben die ungeteilte Entscheidungsgewalt.

Erfolg in der horizontalen Welt

Dennoch gibt es auch die horizontale Führungswelt, wo all diese Maßnahmen versagen. Hier zehrt Führung nicht von Positionsmacht, Titeln und Ämtern, sondern von Prestige und Vertrauen. Und beides erwirbt man sich, wie Grant zeigt, nicht durch Dominanz, sondern durch Dienen. Der Psychologe versteht darunter folgende Verhaltensweisen und belegt ihre Wirksamkeit:

  • Mehr geben als nehmen (Zeit, Kraft, Wissen, Geld).
  • Anderen den Vortritt lassen, bescheiden auftreten, nach Rat fragen.
  • Das Potenzial anderer entwickeln, statt den eigenen Nutzen maximieren.
  • Kooperation statt Konfrontation anstreben.
  • Sich von Vertrauen statt von Misstrauen leiten lassen.
  • Den anderen verstehen und seine Sicht einnehmen, empathisch sein.
  • Machtfrei sprechen (Zweifel äußern, abwägen, andere Sichten artikulieren, andere einbeziehen mit Floskeln wie "nicht wahr?").
  • Mit der eigenen Unvollkommenheit, Unsicherheit und unverstellten Persönlichkeit punkten.

Es ist die Welt der Teams und der Zusammenarbeit auf Augenhöhe, in der es Leute braucht, die Wissen weitergeben, auch unbeliebte Jobs übernehmen und anderen helfen. Wo man, wenn man führt, eher überzeugen als durchsetzen muss, weil Kreativität, Einsatzbereitschaft und Zufriedenheit leiden, wenn die einen überlegen auftreten und sich andere unterlegen fühlen. In dieser Welt wissen alle (fast) alles übereinander, arbeiten eng miteinander und bewerten sich fortwährend gegenseitig. Hier folgt man jenen, die sich als kompetent und der Sache dienlich erwiesen haben. In ihr ist das Nullsummenspiel ausgehebelt: Erfolge können nicht allein, sondern nur gemeinsam erzielt werden. Was eine Person einbringt oder erringt, mehrt das Vermögen aller.

Und wem gehört die Zukunft?

Diese horizontale Welt ist noch wenig untersucht. Aber sie existiert und ist der Natur des Menschen näher als ihr vertikaler Gegenspieler. Die Durchschnittsperson hat mehr Mutter Teresa als Machiavelli in sich, zeigen Studien. Und der Durchschnittsmensch lebt diese Welt schon heute, allerdings bevorzugt im Privaten (was Bände über unsere Arbeitswelt spricht). Zudem gewinnt diese Welt an Bedeutung. Unsere Wirtschaft basiert zunehmend auf Transparenz, gegenseitigen Abhängigkeiten sowie bereichs- und hierarchieübergreifender Zusammenarbeit, in der die Regeln der vertikalen Welt versagen. Der "servant leader" hat also Zukunft - sofern sie oder er in der horizontalen Welt wirkt. Andernfalls lohnt es unbedingt, sich mit Machiavelli und Jeffrey Pfeffer zu beschäftigen.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, New Work, Mitarbeiterführung