Kolumne: Eingeschränkte Aussagekraft von Arbeitszeugnissen

So manchen Mythos in der HR-Welt konnte Professor Uwe P. Kanning schon in seiner Kolumne aufklären. Mit psychologischen Fakten begegnet er den Anhängern des Bauchgefühls. Heute erklärt er, wieso Arbeitszeugnisse bei der Personalauswahl mit äußerster Vorsicht zu genießen sind.

Die Deutung von Arbeitszeugnissen umgibt nicht selten eine geradezu mystische Aura des Geheimnisvollen. Ein alter weiser Meister – oder eine weise Meisterin unbekannten Alters – liest in den Zeugnissen wie einst ein gallischer Seher in den Eingeweiden kleiner Hunde und fördert dabei Wahrheiten zutage, um die nicht einmal der Verfasser wissen konnte.

Aussagekraft der Arbeitszeugnisse ist stark eingeschränkt

Arbeitszeugnisse gehören seit Jahrzehnten zum festen Kanon der Personalauswahlmethoden. Die Grundidee ist bestechend einfach. Hat jemand mehrere Jahre in einem Unternehmen gearbeitet, sollten die direkten Vorgesetzten ihn sehr gut einschätzen können und geben im Arbeitszeugnis daher detaillierte Informationen, die einem zukünftigen Arbeitgeber bei der Vorauswahl helfen.

Nehmen wir uns einen Moment Zeit und denken ein wenig tiefergehend über das Thema nach, so keimen erste Zweifel an der Aussagekraft von Arbeitszeugnissen.

  • Vorgesetzte haben in aller Regel nur einen sehr eingeschränkten Blick auf das Arbeitsverhalten ihrer Mitarbeiter, weil sie nicht immer neben den Mitarbeitern stehen.
  • Oft sehen die Vorgesetzten nur das Ergebnis einer Arbeit und wissen nicht, wie es zustande gekommen ist, also inwieweit beispielsweise Kollegen geholfen haben.
  • Das Problem der Identifizierung individueller Leistung wird umso größer, wenn die Mitarbeiter permanent in Teams zusammenarbeiten.
  • Die Urteilsbildung der Führungskraft ist – wie bei jedem Menschen – durch zahlreiche unbewusste Fehler der Personenbeurteilung verzerrt. Demnach werden beispielsweise Mitarbeiter, die ihr ähnlich sind oder solche, an deren besondere Leistung sie glaubt, eher überschätzt. Insbesondere bei der Beurteilung der Persönlichkeit im Arbeitszeugnis dürfte dies ein großes Problem sein.
  • Die meisten Leistungsbeurteilungssysteme sind so unspezifisch, dass sie kaum in der Lage sind, die individuelle Leistung präzise abzubilden. Die grobe Einschätzung des Engagements oder der Teamfähigkeit auf einer mehrstufigen Skala ohne differenzierte inhaltliche Definitionen der einzelnen Punktwertstufen erfasst nicht viel mehr als das Bauchurteil der Führungskraft.
  • Selbst wenn die Beschreibungen die Eigenschaften des Bewerbers halbwegs exakt wiedergeben würden, bleibt immer noch das Problem, dass die berufliche Leistung eines Menschen nicht zu einhundert Prozent durch seine Eigenschaften determiniert ist. Neue Arbeitsplätze stellen andere Anforderungen mit neuen Kollegen und Vorgesetzten. Je stärker sich die Rahmenbedingungen verändern, desto weniger leicht lässt sich von der früheren Arbeitsleistung auf eine zukünftige Leistung schließen.
  • Als wären dies nicht schon Probleme genug, kommt im Falle der Arbeitszeugnisse noch hinzu, dass der Gesetzgeber dem Arbeitgeber explizit negative Bewertungen verbietet.
  • Der Versuch, diese Vorgaben durch Verschleierungstechniken zu umgehen – absichtlich kurzgefasste Zeugnisse, weitschweifige Auslassungen über Nebensächlichkeiten, Verwendung widersprüchlicher oder stark relativierender Formulierungen etc. – löst das Problem nicht. Der Leser kann sich nie sicher sein, ob der Verfasser derartige Techniken eingesetzt hat oder sie nur aufgrund von Unerfahrenheit zustande gekommen sind.
  • Zu guter Letzt ist auch damit zu rechnen, dass nicht wenige Zeugnisse von den Mitarbeitern selbst verfasst wurden oder mit Standardvorlagen gearbeitet wird.

Arbeitszeugnisse sind nur selten Gegenstand der Forschung, was wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sie im angloamerikanischen Sprachraum – im Gegensatz zu freiwilligen Referenzen – keine Rolle spielen.

Online-Persönlichkeitsfragebogen bringt deutlich mehr Erkenntnis

Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass Zeugnisse durchaus Variationen in der Bewertung der Bewerber aufweisen. Die Zeugnisse sind also nicht alle uniform. Die Validität ist aber dennoch stark eingeschränkt. Über Persönlichkeitsmerkmale geben die Zeugnisse Auskunft in einer Größenordnung zwischen null und fünf Prozent. Ein Online-Persönlichkeitsfragebogen würde deutlich mehr Erkenntnis bringen. Im Bereich der Leistung erreicht man etwa 16 Prozent, wobei es hier nicht um die Prognose der beruflichen Leistung geht, sondern nur um die eingeschätzte Leistung am derzeitigen Arbeitsplatz. Erwarten würde man hier deutlich höhere Werte. Diese Validität wird aber nur dann erreicht, wenn jedes Zeugnis von mehreren unabhängigen Personen nach einem fest vorgegebenen Raster analysiert und bewertet wird. In einer Praxis, die heute immer noch überwiegend mit unstrukturierten Vorstellungsgesprächen arbeitet, dürfte dies geradezu utopisch sein.

Wie ein gallischer Seher, der in Eingeweiden liest

Was ist zu tun? Auch wenn es vielen erfahrenen Hasen und Häsinnen sicherlich schwerfallen wird, spricht die Forschung dafür, den Arbeitszeugnissen keinen hohen Stellenwert einzuräumen. Die Stärke der Arbeitszeugnisse besteht darin, dass sie Auskunft über die Inhalte der beruflichen Arbeitsaufgaben geben. Die Bewertungen der Leistung sind jedoch derart fragil, dass man sie nur mit weit überdurchschnittlicher Vorsicht und Sorgfalt interpretieren sollte. Wer hingegen konkrete Persönlichkeitseigenschaften aus den Zeugnissen ableitet, ist in seiner Erkenntnisbildung nicht mehr allzu weit entfernt von einem gallischen Seher, der in den Eingeweiden kleiner Hunde liest.


Der Kolumnist  Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schauen Sie auch einmal in den  Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.

Schlagworte zum Thema:  Arbeitszeugnis, Personalauswahl, Personalarbeit