Clayton Christensen ist verstorben

Der US-amerikanische Management-Experte Clayton Christensen verstarb am Donnerstag, den 23. Januar 2020, im Alter von 67 Jahren. Er prägte den Begriff "Disruption" maßgeblich. In einem Interview aus dem Jahr 2016 erklärte er, welche Missverständnisse bezüglich disruptiver Innovationen oft auftreten.

Clayton Christensen ist am Donnerstag, 23. Januar 2020, im Alter von 67 Jahren verstorben. Das gab das Christensen Institute bekannt. "Es war ein Privileg, an seiner Seite zu arbeiten und von seinem Intellekt und seiner beispielhaften Freundlichkeit und seinem Mitgefühl zu lernen," schreibt das Institut auf der eigenen Website. 

Christensen galt als Vordenker im Innovationsmanagement und als Begründer der Unterscheidung zwischen "Disruption" und "Innovation". Im Interview, das er 2016 der Haufe Online-Redaktion gab, erklärt Christensen, wieso seine Theorie der disruptiven Innovation häufig misssverstanden wird.


Haufe Online-Redaktion: Sind Sie nicht frustriert, dass der Begriff der disruptiven Innovation heute meist falsch eingesetzt wird?

Clayton Christensen: Nein, aber leider haben nicht nur Praktiker, sondern auch viele Akademiker beschlossen, die Theorie, die ja auf meiner Forschung basiert, auf alles Mögliche anzuwenden. Viele haben das Konzept nicht richtig verstanden. Dabei wäre gut, wenn es mehr disruptive Innovationen gäbe. Denn das ist die einzige Innovation, die das Wachstum bringt, das wir so dringend benötigen.

Haufe Online-Redaktion: Was macht disruptive Innovation genau aus?

Christensen: Disruption beschreibt einen Prozess, bei dem ein kleines Unternehmen oft mit geringen Ressourcen ein erfolgreiches etabliertes Geschäft herausfordert. Denn in der Regel fokussieren sich etablierte Firmen auf die Verbesserungen ihrer Produkte und Dienstleistungen für ihre besten und lukrativsten Kunden und vernachlässigen dabei andere Kundensegmente. Genau dort beginnen dann die disruptiven Unternehmen. Sie bieten einfachere Produkte meist zu einem geringeren Preis an. Weil sich die etablierten Firmen vorrangig mit der besseren Profitabilität in den lukrativen Segmenten beschäftigen, beachten sie das oft nicht. Die disruptiven Unternehmen arbeiten sich dann langsam hoch und liefern das, was der Großteil der Kunden möchte. Diese nehmen nach und nach die neuen Angebote an und damit passiert Disruption. Es gibt aber auch disruptive Firmen, die neue Märkte schaffen, die bisher nicht existiert haben. Nehmen sie den Computer. Zunächst waren die Mainframe-Computer so teuer, dass sich selbst Universitäten nur einen leisten konnten. Dann kam der PC und der Laptop und es entstand ein neuer Markt. Der nächste Schritt war dann das Smartphone.

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Haufe Online-Redaktion: Wenn es um disruptive Unternehmen geht, werden stets Uber und Airbnb genannt. Sind das auch für Sie Vorzeigebeispiele?

Christensen: Nein. Uber hat die Art, wie Taxis arbeiten, verändert. Die Firma hat keine Autos und keine Fahrer und damit keine Fixkosten. Genauso wie Airbnb keine Hotels und kein Personal hat. Ihr Geschäftsmodell besteht darin, die vorhandenen Ressourcen anders zu nutzen. Aber das ist keine disruptive, sondern eine erhaltende oder inkrementelle Innovation.

Haufe Online-Redaktion: Es gibt also verschiedene Arten von Innovation?

Christensen: Man muss drei Arten von Innovation unterscheiden. Einmal die Effizienz-Innovation. Man verbessert zum Beispiel die Produktion oder den Vertrieb und erreicht damit mehr mit weniger Aufwand. Der zweite Typ ist die erhaltende oder auch inkrementelle Innovation. Man hat ein gutes Produkt und macht es noch besser. Man produziert zum Beispiel ein besseres Auto. Das Problem ist, dass man damit nur das alte Produkt durch ein neues Produkt ersetzt. Das bringt aber kein Wachstum. Bei diesen beiden Innovationsformen sind die deutschen Unternehmen sehr gut. Und dann gibt es die disruptive Innovation. Sie transformiert ein Produkt, das bisher sehr kompliziert und teuer war und macht es einfacher und billiger, so dass es sich mehr und neue Kunden leisten können. Nur diese Form von Innovation führt zu echtem Wachstum. In Deutschland sehe ich da aber bisher kaum etwas.

Etablierte Firmen sollen auf Disruption reagieren, wenn sie auftritt. Aber sie sollten nicht überreagieren, indem sie ihr profitables Geschäft aufgeben." – Clayton Christensen


Haufe Online-Redaktion: Wie sollen Taxianbieter und Hotels auf die neuen Wettbewerber reagieren?

Christensen: Das einzige, was sie tun könnten, wäre Uber zu kaufen und es anders zu managen. Taxianbieter können mit diesem Modell nicht mithalten. Das macht keinen Sinn. Sie sollten daher solange wie möglich weitermachen. Es wäre unsinnig mit dem traditionellen Modell aufzuhören, solange es noch funktioniert. Aber natürlich können sie es besser machen. Die Alternative wäre es, etwas ganz Neues zu starten. Aber ein neues Geschäftsmodell innerhalb des alten Geschäftsmodells aufzubauen, ist keine gute Idee.

Haufe Online-Redaktion: Die oftmals verbreitete Panik, dass man schnell reagieren muss, weil man sonst untergeht, ist also übertrieben?

Christensen: Etablierte Firmen sollen auf Disruption reagieren, wenn sie auftritt. Aber sie sollten nicht überreagieren, indem sie ihr profitables Geschäft aufgeben. Stattdessen sollten sie ihre Beziehungen zu ihren wichtigsten Kunden stärken und in erhaltende Innovationen investieren. Zudem können sie neue Geschäftseinheiten schaffen, die sich nur auf die Wachstumschancen von Disruption konzentrieren. Unsere Forschung zeigt, dass der Erfolg dieser Einheiten aber stark davon abhängt, dass sie getrennt vom Kerngeschäft laufen. Denn sie brauchen eine völlig andere Organisations- und Kostenstruktur. Das bedeutet, dass Unternehmen für eine Zeit zwei verschiedene Organisationen managen müssen. Wenn das disruptive Geschäft wächst, wird es vielleicht auch Kunden vom Kerngeschäft abwerben. Aber als Manager sollten Sie nicht versuchen, dieses Problem zu lösen, bevor es ein Problem ist.

Haufe Online-Redaktion: Wie wichtig ist disruptive Innovation?

Christensen: Alle drei Arten von Innovation sind wichtig und es muss eine Balance geben. Ein Problem ist aber, dass die Effizienz-Innovation die größte Rendite bringt. Das ist hart für die Unternehmen. Denn damit können sie nicht wachsen. Entrepreneurship ist daher ein Backup-Plan für Unternehmen, weil sie sich intern nicht erneuern können. Entrepreneurship bedeutet Versuch und Irrtum und wir haben noch nicht gelernt, wie man das intern machen kann. Auch inkrementelle Innovationen sind wichtig, um den Markt am Laufen zu halten. Nur schaffen sie per Definition kein Wachstum.

Wenn ein Elektro-Auto 100.000 Dollar kostet, ist das Luxus und keine Disruption." – Clayton Christensen


Haufe Online-Redaktion: Disruption wird auch oft mit Erfolg gleichgesetzt.

Christensen: Auch das ist falsch. Nicht jedes disruptive Unternehmen ist erfolgreich und nicht jeder Erfolg kommt von einem disruptiven Unternehmen. Der Erfolg von Uber basiert ebenso wie der von Apple auf einem Plattform-Modell. Uber verbindet Fahrer und Fahrgäste digital, das I-Phone verbindet App-Entwickler mit Telefonnutzern. Doch nur Apple folgt einem disruptiven Weg, weil es ein Ökosystem von App-Entwicklern aufgebaut hat und das I-Phone so zu einem Computer transformiert hat.

Haufe Online-Redaktion: Und was ist mit dem Elektro-Auto?

Christensen: Wenn ein Elektro-Auto 100.000 Dollar kostet, ist das Luxus und keine Disruption. Das ist eine erhaltende Innovation und die Anbieter konkurrieren dann vielleicht mit den Luxusautos von BMW. Die echte Disruption passiert in China. Dort ist bereits jedes zehnte Auto ein Elektroauto und das kostet nur 3000 Dollar. Das sind zwar nur kleine Autos, die sich aber viele leisten können. Das führt zu Wachstum. Ein anderes Beispiel ist das Unternehmen Godrej in Indien, die unter anderem Kühlschränke herstellen. Sie haben erkannt, dass sich viele Inder auch keinen billigen Kühlschrank leisten können. Also haben sie eine neue Technologie entwickelt, mit der man Lebensmittel kühl halten kann und bieten das Gerät für 49 Dollar an. Die Nachfrage ist riesig und sie mussten viele neue Mitarbeiter einstellen.

Haufe Online-Redaktion: Viele Geschäftsideen scheitern. Wie lässt sich die Misserfolgsquote reduzieren?

Christensen: Wenn eine Geschäftsidee auf einer fundierten Theorie basiert und man seine Entscheidungen aufgrund von Kausalitäten trifft, steigt auch die Erfolgsquote. An der Harvard Business School haben wir seit 2007 einen Fond, der in neue Geschäftsideen investiert. Wer Geld haben will, muss allerdings erst ein theoretisch fundiertes und disruptiv innovatives Geschäftsmodell vorlegen, das auf Innovation und Wachstum aufbaut. Bis heute haben wir in 18 Unternehmen investiert. Drei sind gescheitert, 15 sehr erfolgreich. Das Problem ist, dass Risikokapitalgeber keine Forschung lesen und daher nicht auf die richtigen Dinge achten. Der Kapitalmarkt erlaubt oft nicht das, was man tun sollte.

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Haufe Online-Redaktion: Heute setzen viele Unternehmen vor allem auf Daten und Algorithmen. Liegt hier künftig der Schlüssel von Erfolg?

Christensen: Daten repräsentieren immer nur ein Phänomen, aber sie sind nicht das Phänomen selbst. Jeder Teil der Daten wurde von einer Person geschaffen und diese Person hat sich einige Elemente des Phänomens herausgenommen, sie in die Daten inkludiert und andere dafür ausgeschlossen. Immer wenn man seine Entscheidung aufgrund von Daten trifft, basiert sie also immer nur zum Teil auf der Wahrheit und Daten beziehen sich zudem immer nur auf die Vergangenheit. Man braucht eine Theorie, um bewerten zu können, welche Kausalität dahintersteht. Managemententscheidungen nur aufgrund von Daten zu treffen, halte ich für falsch. Ich bin zwar noch nicht tot, und weiß nicht wie es ist, aber ich stelle mir vor, wenn sie mich in den Himmel lassen und ich mich umschaue, dann gibt es dort keine Daten. Und wenn ich frage, warum das so ist, dann antworten sie mir: Weil Daten immer lügen. Und immer, wenn Daten wieder in den Himmel wollen, dann schicken wir sie zur Hölle.


Das Interview führte Bärbel Schwertfeger, freie Journalistin, für die Haufe Personal Redaktion.

Clayton Christensen war Professor of Business Administration an der Harvard Business School und gilt als weltweit führender Experte im Bereich Innovation und Wachstum. Er ist Autor von elf Büchern und mehreren Hundert Artikeln. In seinem ersten Buch "The Innovator's Dilemma" (1997) beschäftigte er sich erstmals mit der Theorie der disruptiven Innovation. Er gründete mehrere Unternehmen, darunter die Beratung Innosight und die Investmentfirma Rose Park Advisors sowie The Christensen Institute, ein Non-Profit-Think-Tank, der sich mit disruptiver Innovation im Gesundheitsbereich und in der Bildung beschäftigt. Christensen war Mormone und von 1971 bis 1972 als Missionar in Korea tätig. Auf seiner Website www.claytonchristensen.com betonte er stets, wie wichtig ihm sein Glaube ist.