Führen in der Krise: mit Kontrollverlust umgehen

Menschen fürchten nichts so sehr wie den Kontrollverlust. Für Führungskräfte gilt das umso mehr. Was das in Zeiten der Selbstisolation und Krise bedeutet und wie gerade Chefs damit umgehen sollten, erläutert Psychologin und Gesundheitsexpertin Franziska Stiegler im Interview.

Haufe Online-Redaktion: Frau Stiegler, wie fühlt sich Ihr Leben gerade an?

Franziska Stiegler: Ziemlich ungewohnt und auch etwas verstörend. Auch ich arbeite aus meinem Berliner Homeoffice heraus und habe nur noch digitalen Kontakt zu den Kollegen und der Außenwelt. Die Corona-Krise hat auch die Kontrolle über mein Leben übernommen.

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Kontrolle ist ein zentrales Bedürfnis des Menschen

Haufe Online-Redaktion: Und genau das fühlt sich nicht gut an, wie uns die Psychologie lehrt.

Stiegler: Genau. Kontrolle ist ein ganz zentrales Bedürfnis des Menschen. Unsere ganze Entwicklung vom Säugling bis zum verantwortlichen Erwachsenen ist davon geprägt, den Kontakt mit unserer Umwelt und anderen Menschen zu balancieren. Das Grundbedürfnis pendelt zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und dem, sich anzupassen.

Haufe Online-Redaktion: Gerade Krisen wie die aktuelle Pandemie zeigen uns aber unsere Ohnmacht.

Stiegler: So ist es. Und damit müssen wir immer umgehen - merken es nur für gewöhnlich nicht. Jetzt spüren wir den Kontrollverlust ganz körperlich als Angst, im schlimmsten Fall als Panik. Dem müssen und können wir begegnen. Die meisten Menschen schaffen das auch gut. Psychisch stabile Menschen können sich in der Regel binnen zwei Wochen mit der neuen Lage arrangieren.

"Wir sollten uns die Angst erlauben. Das schaffen wir durch realistisches Erwartungsmanagement." – Franziska Stiegler


Haufe Online-Redaktion: Und wie gelingt das?

Stiegler: Das Wichtigste: Die Verunsicherung erst einmal akzeptieren. Das klingt paradox. Angst ist eine natürliche Reaktion – die wir am liebsten verhindern wollen. Damit verstärken wir sie jedoch eher. Wir sollten uns die Angst erlauben. Das schaffen wir durch realistisches Erwartungsmanagement, indem wir uns fragen: Was kann ich unter den aktuellen Umständen schaffen und was nicht. Das stärkt das Gefühl, auch in turbulenten Zeiten die Kontrolle zu haben.

Infrastruktur auch für persönliche Kontakte nutzen

Haufe Online-Redaktion: Wie geht das, wenn man allein mit jeder Menge Nöten im Homeoffice oder in der Isolation sitzt?

Stiegler: Da sind wir natürlich erst mal auf die entsprechende technische Infrastruktur angewiesen. Firmen sind gut beraten, hier die bestmögliche Unterstützung zu bieten, damit die funktioniert und die Menschen sie bedienen können. Dann sollten Teams diese Infrastruktur nicht nur nutzen, um Arbeit zu bewältigen, sondern auch im Kontakt zu bleiben und sich auf der persönlichen Ebene auszutauschen.

Haufe Online-Redaktion: Viel Verantwortung kommt da den Führungskräften zu. Was können und sollen die tun?

Stiegler: Die müssen zwei Dinge gleichzeitig leisten: zum einen sich selbst an die neuen Bedingungen anpassen, lernen, wie man virtuell führt und wie man mit dem eigenen Gefühl des Kontrollverlusts umgeht. Zum anderen müssen sie den Kollegen bestmöglich Orientierung, Struktur und Sicherheit geben.

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Haufe Online-Redaktion: Eine ganz schöne Packung!

Stiegler: In der Tat. Virtuell zu führen ist – wie Führung allgemein – aber eben auch ein Stück Handwerk, das man lernen kann. Was gute Führung ausmacht, nämlich zugänglich sein, klar kommunizieren, Ziele setzen und so weiter, ist auch hier von Bedeutung. Was sich verändert, ist die Kommunikation. Da habe ich weniger Möglichkeiten, körpersprachliche Signale zu senden und vieles verlagert sich in Textkommunikation. Umso besser, wenn man daher auch Videokonferenzen nutzen kann. Außerdem stellt sich die Frage schärfer, wann ich in der Gruppe kommuniziere und wann ich bilateral spreche. Man begegnet sich ja nicht einfach mehr so auf dem Gang.

Genau hinsehen und hinhören, wie die Stimmung ist

Haufe Online-Redaktion: Und was ist besser? Bilateral oder in der Gruppe besprechen?

Stiegler: Da habe ich kein Patentrezept. Das muss man ausprobieren. Wichtig ist es, genau hinzusehen und hinzuhören, wie die Stimmung in der Gruppe und bei jedem einzelnen ist. Wenn da Kollegen aus dem gewohnten Muster fallen, muss die Führungskraft das aufgreifen.

Haufe Online-Redaktion: Kommen wir zur zweiten Herausforderung: Das eigene Kontrollbedürfnis managen.

Stiegler: Das dürfte fast die größere Aufgabe sein. Zumindest für Chefs, die von Natur aus stark mit Weisung und Kontrolle arbeiten. Für die ist die neue Lage eine Riesenherausforderung.

Alles beginnt damit, sich selbst zu beobachten und zu hinterfragen

Haufe Online-Redaktion: Was können solche notorischen Micromanager dann tun?

Stiegler: Alles beginnt damit, sich selbst zu beobachten und zu hinterfragen, warum man gerade die Kontrolle sucht über das, was die Kollegen tun. Weil es der Sachverhalt erfordert oder es den Anschein hat, die Kollegen sind gerade überfordert oder verunsichert? Oder, Hand aufs Herz, weil ich nur sichergehen will, dass alle arbeiten? In diesem Fall sollten Manager sich unbedingt zurückhalten, denn Misstrauen demotiviert. Gerade auf Distanz führt man mit Vertrauen am besten.

"Es hilft, als Führungskraft für klare Regeln zu sorgen, neue Routinen einzuführen und dadurch Struktur zu geben." – Franziska Stiegler 


Haufe Online-Redaktion: Vertrauen allein reicht aus, um gut zu führen?

Stiegler: Ohne Vertrauen geht es nicht, aber natürlich braucht es die vorhin beschriebenen handwerklichen Fähigkeiten. Und es hilft, als Führungskraft für klare Regeln zu sorgen, neue Routinen einzuführen und dadurch Struktur zu geben. Wann sprechen wir uns, wie ist wer zu erreichen, was sind unsere wichtigsten Aufgaben und so fort. Wichtig ist aber auch:  Führung geht in solchen Zeiten jeden an!

Haufe Online-Redaktion: Will heißen?

Stiegler: Jetzt kommt es im besonderen Maße auf jeden im Team an. Wer beobachtet, dass etwas nicht gut funktioniert, etwas nicht beachtet ist, jemand unter die Räder kommt, ist umso mehr aufgefordert, das zu thematisieren. Und Chefs sollten das als Unterstützung sehen und sogar einfordern. Dass man in neuen und ungewohnten Verhältnissen nicht alles kann und weiß, versteht jeder.

Teams können jetzt Vertrauen und Zusammenhalt aufbauen

Haufe Online-Redaktion: Letzte Frage: Wenn wir gut durch diese Krise gekommen sind, werden wir dann mit unserem Kontrollbedürfnis entspannter umgehen?

Stiegler: Das wäre natürlich wünschenswert, aber eben auch ein Stück gegen unsere Natur. In der Regel pendeln wir uns wieder in den Urzustand ein. Ich bin aber ziemlich sicher, dass gerade Teams, die jetzt gut zusammenspielen, Vertrauen und Zusammenhalt aufbauen. Und dass Führungskräfte, die sich in dieser Situation bewähren, ihre Stellung und ihren Einfluss auf Dauer festigen.


Zur Person: Franziska Stiegler ist systemische Therapeutin, Organisationsberaterin und beim BKK Dachverband verantwortlich für das vom Bundesarbeitsministerium im Rahmen von INQA geförderte Projekt "psyGA – psychische Gesundheit in der Arbeitswelt fördern".


Schlagworte zum Thema:  Mitarbeiterführung, Leadership, Homeoffice