Erfahren und doch nichts dazu gelernt?

So mancher Mythos geistert durch die Personalabteilungen - gerade wenn es um psychologisches Wissen geht. Professor Uwe P. Kanning klärt in seiner monatlichen Kolumne über die Fakten auf und gibt Tipps für die Praxis. Heute: Die zwei Seiten der Berufserfahrung.

Berufserfahrung wird in der Arbeitswelt durchweg positiv bewertet. Kaum eine Stellenanzeige verzichtet darauf, mehrjährige Berufserfahrung einzufordern. Mitarbeiter verweisen stolz darauf, dass sie schon jahrzehntelang an ihrem Arbeitsplatz tätig sind und höherwertige Führungspositionen werden nur mit Personen besetzt, die bereits auf einer niedrigeren Ebene geführt haben. Auch die Plausibilität spricht zunächst für die Berufserfahrung: Wer lange im Berufsleben steht, hat direkt in der Praxis gelernt und kann daher schneller und mit geringerer Fehlerquote seine täglichen Aufgaben bewältigen.

Keine Belege für überaus positive Sicht auf Berufserfahrung

Werfen wir einen Blick in die Forschung, so wird diese Sichtweise schnell getrübt. Eine Studie aus den 90er Jahren, in der viele Einzelbefunde zusammengefasst werden, bestätigt zwar grundsätzlich den positiven Zusammenhang zwischen Erfahrung und Leistung. Der Zusammenhang beträgt aber gerade einmal vier Prozent. Viel bedeutsamer als die Dauer der Berufserfahrung ist die Vielfalt der beruflichen Aufgaben, mit denen die Menschen betraut waren. Hier ist der Zusammenhang mehr als viermal so hoch.

Eine jüngst veröffentlichte Studie, die sich mit der Frage beschäftigt, ob erfahrene Führungskräfte in einer Potentialanalyse für Führungsaufgaben besser abschneiden als Menschen ohne entsprechende Erfahrung, kommt zu einem noch traurigeren Ergebnis: Die mehr als 500 erfahrenen Führungskräfte schnitten in keiner einzigen Kompetenzdimension positiver ab als die fast 270 unerfahrenen Kollegen. Mehr noch, jüngere Personen schnitten sogar geringfügig besser ab als ältere, wobei die Unterschiede aber sehr gering waren. Wie sind diese Befunde zu erklären? Warum führt Erfahrung nicht automatisch zu Expertise?

  • In manchen Berufsfeldern, in denen es nur einfache Aufgaben zu erledigen gilt, stellt sich schon nach recht kurzer Zeit ein so genannter "Deckeneffekt" ein. Wer zum Beispiel drei Jahre lang Schuhe verkauft, konnte wahrscheinlich bereits alles lernen, was es hier zu lernen gibt.
  • Lernen setzt voraus, dass man ein Feedback über die eigene Leistung erhält. Ein aussagekräftiges Feedback bleibt an vielen Arbeitsplätzen aber aus. So kann man als Führungskraft jahrein jahraus schlecht führen, ohne jemals ein Feedback der Mitarbeiter fürchten zu müssen. Im Personalwesen werden so gut wie nie aussagekräftige Evaluationen durchgeführt und daher untaugliche Trainings oder Auswahlverfahren als solche oft nicht erkannt.
  • Selbst wenn ein negatives Feedback vorliegt, mangelt es vielen an der notwendigen Lernbereitschaft, um hieraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Generell neigen Menschen dazu, die Ursachen für Minderleistung nicht bei sich selbst, sondern in ihrer Umwelt zu suchen. Schuld sind die Anderen oder die Umstände. Gefördert wird diese lernunfreundliche Grundhaltung durch das blinde Vertrauen auf die eigene Erfahrung. Fehler machen im Zweifelsfall die Grünschnäbel und Theoretiker, nicht aber man selbst.
  • Das Vertrauen in die Erfahrung stammt wohl aus einer längst vergangenen Arbeitswelt ohne Bücher und Wissenschaft, in der sich ein Novize über viele Jahre hinweg durch Abschauen und Ausprobieren die Expertise des alten Meisters aneignen musste. In einer Arbeitswelt, die zunehmend auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen ist, die sich immer schneller weiterentwickeln, reichen die praktischen Erfahrungen des Einzelnen leider meist nicht mehr aus, um alle anstehende Probleme gut bewältigen zu können.

Von alleine lernt man nichts

Erfahrung bietet eine sehr gute Chance zum Lernen, gleichzeitig birgt sie aber auch die Gefahr der selbstgefälligen Immunisierung: "Ich habe alles gesehen, mir kann niemand etwas vormachen." Um hier Abhilfe zu schaffen, muss man klare Feedbacksysteme installieren und darf die Interpretation der Befunde nicht jedem Mitarbeiter selbst überlassen. Speziell im Personalwesen würde man sich wünschen, dass Hochschulabsolventen als Quelle des aktuellen Wissens ernst genommen werden. Leider vertraut man hier vielfach immer noch lieber der erfahrenen 50-jährigen Germanistin als der 25-jährigen Psychologin. Besser lassen sich Ressourcen kaum verschwenden. Wer naiv darauf vertraut, dass (seine eigene) berufliche Expertise ganz von allein reift wie die Qualität eines guten Weins, übersieht allzu leicht, dass dies auch für die meisten Weine nicht gilt.

Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen & Personalentwicklung.

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