Rz. 16

Bereits nach dem seit 1.4.2004 geltenden § 125 Abs. 3 SGB IX a. F. galt bei rückwirkender Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft die Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG auch für die Übertragung des Zusatzurlaubs aus dem vorangegangenen Kalenderjahr. Dies gilt bei § 208 SGB IX seit 1.1.2018 unverändert. D. h., auch der Zusatzurlaub muss grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden. Nur wenn betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, darf er in das darauf folgende Kalenderjahr übertragen werden.[1] Der Arbeitnehmer muss ihn dann aber bis spätestens 31.3. des Übertragungsjahres nehmen, es sei denn, ein für das Arbeitsverhältnis geltender Tarifvertrag sieht einen längeren Übertragungszeitraum vor (BAG, Urteil v. 14.3.2006, 9 AZR 312/05[2]). Damit wird eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen (BAG, Urteil v. 4.11.2015, 7 AZR 851/13[3]).

 
Hinweis

Die Ungewissheit über die Schwerbehinderung bzw. über das Ergebnis des Feststellungsverfahrens nach § 152 Abs. 1 SGB IX ist kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund für eine Übertragung des Zusatzurlaubs auf den gesetzlichen Übertragungszeitraum gem. § 7 Abs. 3 BUrlG oder einen gegebenenfalls bestehenden tarifvertraglichen Übertragungszeitraum (BAG, Urteil v. 21.2.1995, 9 AZR 675/93[4]; BAG, Urteil v. 21.2.1995, 9 AZR 166/94[5]). Die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft hat deshalb auch nicht zur Folge, dass der Arbeitnehmer in größerem Umfang "aufgestaute" Urlaubsansprüche geltend machen könnte, es gelten insoweit die für den "normalen" Erholungsurlaub maßgeblichen Regelungen (§ 208 Abs. 3 SGB IX).[6]

Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie[7] ist § 7 Abs. 3 BUrlG zwar unionsrechtskonform so auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist (BAG, Urteil v. 24.3.2009, 9 AZR 983/07, Rz. 47 ff.[8]). Der Zusatzurlaubsanspruch aus § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist an das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs gebunden (BAG, Urteil v. 29.3.2010, 9 AZR 128/09 zu § 125 SGB IX a. F. [9]). D. h., dass auch der gesamte Zusatzurlaub nach Rückkehr aus längerer krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit noch nicht verfallen ist und vom Arbeitgeber gewährt werden muss.

Die unionsrechtskonforme Auslegung hat jedoch nur zur Folge, dass der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzutritt und damit erneut dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG unterfällt (BAG, Urteil v. 9.8.2011, 9 AZR 425/10, Rz. 19[10]). Besteht die Arbeitsunfähigkeit auch am 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, so gebietet auch das Unionsrecht keine weitere Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs (EuGH, Urteil v. 22.11.2011, C-214/10 (KHS/Schulte) Rz. 38[11]). Nach der Rechtsprechung des BAG erlischt der zunächst aufrechterhaltene Urlaubsanspruch somit (spätestens) zu diesem Zeitpunkt (vgl. BAG, Urteil v. 7.8.2012, 9 AZR 353/10, Rz. 32 ff.[12]). Die Notwendigkeit einer Begrenzung der Übertragung des Urlaubsanspruchs ergibt sich zwar nicht aus dem Unionsrecht.[13] Der 9. Senat des BAG hat jedoch den Untergang des Urlaubsanspruchs am 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres aus dem nationalen Recht abgeleitet (vgl. BAG, Urteil v. 11.6.2013, 9 AZR 855/11, Rz. 21; BAG, Urteil v. 7.8.2012, 9 AZR 353/10, Rz. 40[14]). Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn die urlaubsrechtlichen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie zwischen dem Arbeitnehmer und dem Staat als Arbeitgeber unmittelbar zur Anwendung kommen können (BAG, Urteil v. 16.10.2012, 9 AZR 63/11, Rz. 12[15]).

 

Beispiel

Ein als schwerbehinderter Mensch anerkannter Arbeitnehmer war vom 10.2.2017 bis 31.3.2022 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Der Arbeitgeber sah im Hinblick auf einen gestellten Antrag auf Erwerbsminderungsrente von einer personenbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses ab. Der Rentenantrag des Arbeitnehmers wird abgelehnt, seine Klage vor dem Sozialgericht wird abgewiesen. Daraufhin nimmt er am 1.4.2022 die Arbeit wieder auf.

Lösung

Die Ansprüche auf Zusatzurlaub von 2018 bis 2020 sind verfallen. Die Ansprüche des Jahres 2020 mit Ablauf des 31.3.2022, dem zweiten auf das Urlaubsjahr 2020 folgenden Jahr. Der Anspruch aus dem Jahr 2021 i. H. v. 5 Tagen besteht noch und ist dem Arbeitnehmer zu gewähren. Hinzu kommen die 5 Tage für das Jahr 2022. Problematisch könnten die Ansprüche aus dem Jahr 2017 sein. Hier kommt es nach der neuen Rechtsprechung des BAG[16] darauf an, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor dem 10.2.2017 in die Lage versetzt hat, den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen auch tatsächlich zu nehmen.

 
Hinweis

Der Anspruch auf den Schwerbehindertenzusatzurlaub eines langandauernd erkrankten Arbeitnehmers erlischt auch dann mit dem 3...

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