Rz. 193

Gewährt der Arbeitgeber übertarifliche Zulagen, so steht das Mitbestimmungsrecht nach jeder Tarifrunde zur Diskussion. Da das Schicksal übertariflicher Zulagen im Tarifvertrag wegen Verbots von Effektivklauseln nicht geregelt werden kann, wird der Arbeitgeber nach jeder Tarifrunde die Entscheidung treffen können, wie sich die Tariferhöhungen auf übertarifliche Zulagen auswirken sollen. Das betrifft aber zunächst nur die individualrechtliche Zulässigkeit der Anrechnung der Tariflohnerhöhung. Sie ist gegenüber dem Arbeitnehmer aber nur wirksam, wenn – soweit erforderlich (dazu Rz. 195) – auch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates gewahrt worden ist.

 

Rz. 194

Erste Voraussetzung für eine Anrechnungsentscheidung des Arbeitgebers ist, dass die übertarifliche Zulage den Arbeitnehmern gegenüber veränderbar ausgestaltet wurde. Eine allgemeine übertarifliche Zulage ohne besondere Zweckbestimmung ist regelmäßig auf Tariflohnerhöhungen anrechenbar. Hat der Arbeitgeber die übertarifliche Zulage den Arbeitnehmern gegenüber durch einzelvertragliche Zusage oder durch die Ausgestaltung der Gesamtzusage anrechnungsfest ausgestaltet, hat er keinen Entscheidungsspielraum für die Anrechnung der übertariflichen Zulage auf die Tariflohnerhöhung. Die Bindung des Arbeitgebers muss sich nicht zwingend durch eine ausdrückliche Zusage ergeben. Sie kann auch aus besonderen Umständen oder aus dem Zweck der Zulage folgen (BAG, Urteil v. 22.9.1992, 1 AZR 405/90[1]; BAG, Urteil v. 23.3.1993, 1 AZR 520/92[2]; BAG, Urteil v. 7.2.1996, 1 AZR 657/95[3]; BAG, Urteil v. 1.11.2005, 1 AZR 358/04[4]). Auch in Ansehung der Regeln über die AGB-Kontrolle genügt insofern die Bezeichnung als "übertarifliche Zulage" (BAG, Urteil v. 27.8.2008, 5 AZR 820/07). Wird eine Zulage als "widerrufliche Zulage" gewährt, ist sie ebenfalls mit Tariflohnerhöhungen individualrechtlich verrechenbar. Daneben hat der Arbeitgeber auch noch die Möglichkeit, die Zulage zu widerrufen, wenn die dafür im Arbeitsvertrag anzugebenden Gründe vorliegen. Auch hier ist neben der individualrechtlichen Zulässigkeit des Widerrufs noch die Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates erforderlich, wenn der Widerruf gegenüber dem Arbeitnehmer wirksam sein soll.

 

Rz. 195

Mitbestimmungspflichtig ist die Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf übertarifliche Zulagen nur dann, wenn sich dadurch die Verteilungsgrundsätze ändern (BAG, Beschluss v. 3.12.1991, GS 2/90[5]; LAG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 9.2.2007, 8 TaBV 43/06). Dies ist der Fall, wenn durch die Anrechnung das Verhältnis der Zulagen zueinander geändert wird. Kürzt der Arbeitgeber demzufolge alle übertariflichen Zulagen anlässlich einer Tariferhöhung um einen gleichen Prozentsatz, so ändert sich das Verteilungsverhältnis der Zulagen zueinander nicht. Eine solche Kürzung ist mitbestimmungsfrei möglich. Will der Arbeitgeber hingegen auf alle übertariflichen Zulagen einen gleichen Prozentsatz der Tariflohnerhöhung anrechnen (z. B. zwei Prozent einer dreiprozentigen Tariferhöhung), ändert sich das Verteilungsverhältnis bei den Zulagen, die in Form gestaffelter Beträge gewährt werden. Mitbestimmungsfrei ist diese Anrechnungsform nur, wenn die Zulage ihrerseits durch einen Prozentsatz des Tariflohns festgelegt ist. In allen anderen Fällen ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu beachten.

Der Große Senat des BAG hat in der vorbezeichneten Entscheidung die Mitbestimmungspflicht einer Anrechnungsentscheidung zudem dann verneint, wenn tatsächliche oder rechtliche Hindernisse einer Mitbestimmung entgegenstehen. Ein tatsächliches Hindernis besteht, wenn durch die Anrechnung der Tariferhöhung das Zulagevolumen auf null reduziert wird. Dies kommt der mitbestimmungsfreien Entscheidung des Arbeitgebers über das "Ob" der Zulage gleich, die Zulage insgesamt aufzuheben.

Das BAG sieht ein rechtliches Hindernis für die Mitbestimmung des Betriebsrats, wenn der Arbeitgeber die Tariflohnerhöhung auf die bisher gezahlten freiwilligen übertariflichen Zulagen vollständig und gleichmäßig – d. h. bei allen Arbeitnehmern – anrechnen will (BAG, Beschluss v. 3.12.1991, GS 2/90[6]; BAG, Urteil v. 1.3.2006, 5 AZR 363/05[7]; BAG, Urteil v. 1.3.2006, 5 AZR 540/05[8]). Mehr als die volle Tariferhöhung kann der Arbeitgeber mangels anderweitiger Vereinbarungen im Zweifel dem einzelnen Arbeitnehmer nicht gegenüber dessen übertariflicher Zulage anrechnen. Rechnet der Arbeitgeber also gegenüber jedem betroffenen Arbeitnehmer vollständig an, so ändert sich zwar das Verhältnis der übertariflichen Zulagen zueinander, ein rechtlicher Spielraum für eine mitbestimmte anderweitige Verteilung der verbleibenden Zulagen entsteht anlässlich der Anrechnungsentscheidung und der Tariflohnerhöhung aber nicht, weil der Arbeitgeber den Arbeitnehmer die verbleibende Restzulage nicht "wegnehmen" kann, um sie umzuverteilen.

Umgekehrt kann nach Ansicht des BAG auch die vollständige Streichung von Entlohnungselementen die Mitbestimmung des Betriebsrats auslösen, wenn der ...

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