Rz. 55

Problematisch ist, auf welche Einheit hinsichtlich der für die Massenentlassungsanzeige maßgeblichen Schwellenwerte abzustellen ist, wenn eines von mehreren Unternehmen, die einen Gemeinschaftsbetrieb führen, beabsichtigt, seine betriebliche Tätigkeit einzustellen und seine Arbeitnehmer zu entlassen. Entscheidend ist, ob im für die Schwellenwerte maßgeblichen Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bzw. des Abschlusses der vom Arbeitgeber veranlassten Aufhebungsverträge der Gemeinschaftsbetrieb noch besteht oder ob er bereits aufgelöst wurde. Insoweit könnte man – in Anlehnung an die Rechtsprechung zur unternehmensübergreifenden Sozialauswahl bei Gemeinschaftsbetrieben[1] – bereits von einer Auflösung des Gemeinschaftsbetriebs ausgehen, wenn eine unternehmerische Entscheidung getroffen wurde, den Betriebsteil des einen Unternehmens stillzulegen, und diese Entscheidung bereits greifbare Formen angenommen hat (z. B. weil bei vernünftiger, wirtschaftlicher Betrachtung davon auszugehen ist, zum Zeitpunkt des Kündigungstermins sei der Betriebsteil stillgelegt). Dann wäre im für die Schwellenwerte maßgeblichen Zeitpunkt wohl regelmäßig von einem bereits aufgelösten Gemeinschaftsbetrieb auszugehen und nur auf den Betriebsteil des stilllegenden Unternehmens abzustellen.

 

Rz. 56

Gegen eine derartige Vorverlagerung des Zeitpunkts der Auflösung des Gemeinschaftsbetriebs spricht aber, dass die Pflichten aus § 17 KSchG auch dann zu erfüllen sind, wenn die betriebliche Einheit bereits durch Stilllegung untergegangen ist.[2] Auch die betriebsverfassungsrechtliche Dimension der Massenentlassungsanzeigevorschriften streitet gegen ein Abstellen auf den Zeitpunkt der unternehmerischen Entscheidung zur Stilllegung. Da mit Überschreiten des Schwellenwerts nicht nur die Anzeigepflicht, sondern auch die Auskunfts- und Beratungspflichten gegenüber dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 und 3 KSchG ausgelöst werden, ist es sachgerecht, betriebsverfassungsrechtliche Aspekte hinsichtlich des Zeitpunkts der Auflösung des Gemeinschaftsbetriebs mitzuberücksichtigen. Insoweit ist festzuhalten, dass die Amtszeit des für den Gemeinschaftsbetrieb gewählten Betriebsrats grds. nicht beendet wird, wenn ein von zwei Unternehmen geführter Gemeinschaftsbetrieb dadurch aufgelöst wird, dass eines der beiden Unternehmen seine betriebliche Tätigkeit einstellt.[3] Demgemäß ist im für § 17 Abs. 1 KSchG maßgeblichen Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bzw. der vom Arbeitgeber veranlassten Beendigungshandlung grds. noch vom Bestehen eines Gemeinschaftsbetriebs auszugehen und hinsichtlich der Schwellenwertberechnung auf die Zahlenverhältnisse im Gemeinschaftsbetrieb abzustellen.[4] Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise ist von einer Auflösung des Gemeinschaftsbetriebs ohnehin erst dann auszugehen, wenn der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Verfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen.[5]

 

Rz. 57

Nicht ausschlaggebend kann hingegen die bloße Aufhebung oder Kündigung der Führungsvereinbarung hinsichtlich der Leitung des Gemeinschaftsbetriebs in personellen und sozialen Angelegenheiten sein, weil es bei europarechtskonformer Auslegung des Betriebsbegriffs im Hinblick auf die MERL nicht auf die einheitliche Leitung ankommt, sondern auf die örtlich bestimmbare organisatorische Einheit (Rz. 51 ff.).

[2] Vgl. BAG, Urteil v. 13.2.2020, 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006, Rz. 83.
[5] Vgl. BAG, Urteil v. 24.2.2005, 2 AZR 214/05, ZIP 2005, 1189, 1190.

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