Rz. 14

Das die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten auslösende Ereignis ist die "Entlassung" der in Abs. 1 genannten Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen durch den Arbeitgeber.

2.1 Frühere Rechtsprechung: Tatsächliches Ausscheiden

 

Rz. 15

Nach früherer Rechtsprechung war unter der Entlassung die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung des Arbeitnehmers aufgrund einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung zu verstehen; Entlassungszeitpunkt war also der Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis bzw. der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der einschlägigen Kündigungsfrist.[1] Der Entlassung gleichgestellt sind nach § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses, die vom Arbeitgeber veranlasst werden, wie etwa vom Arbeitgeber veranlasste Eigenkündigungen des Arbeitnehmers oder Aufhebungsverträge. Nach früherer Rechtsprechung konnte die Anzeige insbesondere bei längeren Kündigungsfristen auch nach Ausspruch der Kündigung erfolgen, wenn sie noch rechtzeitig vor der Entlassung bei der Arbeitsverwaltung einging. Es war sogar möglich, dass die Anzeigepflicht erst nach Ausspruch der Kündigung entsteht, wenn nämlich bei stufenweisen Entlassungen die nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigepflichtige Zahl von Entlassungen erst im Laufe der 30 Kalendertage erreicht wurde[2] (vgl. Rz. 34, 155, 171).

2.2 Heutiger Grundsatz: Ausspruch der Arbeitgeberkündigung

2.2.1 Rechtsprechungsänderung durch "Junk"

 

Rz. 16

Mit der sog. "Junk" -Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005[1] wurde das frühere Verständnis überholt und die bisherige Praxis bei Massenentlassungen in ihren Grundfesten erschüttert.[2] Der EuGH entschied, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis (i. S. d. MERL) ist, das als Entlassung gilt; die Kündigung dürfe erst nach dem Ende des Konsultationsverfahrens mit den Arbeitnehmervertretern (Art. 2 der MERL) und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde ausgesprochen werden.[3]

 

Rz. 17

Das BAG schloss sich der Auffassung des EuGH an und legt die Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG seither in st. Rsp. richtlinienkonform dahingehend aus, dass unter dem Begriff der "Entlassung" der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist, dass das Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern abgeschlossen und dass die Massenentlassungsanzeige erstattet sein muss, bevor der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen kann.[4] Die Kündigung ist ausgesprochen, wenn sie dem Arbeitnehmer zugeht (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB[5]). Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG ist eine Kündigung grundsätzlich rechtsunwirksam, wenn sie der Arbeitgeber unter Außerachtlassung der gesetzlichen Anforderungen des § 17 KSchG ausspricht[6]. Dies gilt sowohl für Fehler beim Konsultationsverfahren nach Abs. 2 (Rz. 117 ff.) als auch für Fehler beim Anzeigeverfahren (vgl. Rz. 150 ff.). Allerdings hat der 6. Senat eine Änderung seiner Rechtsprechung angekündigt (vgl. Rz. 159 ff.).

 

Rz. 18

Im Rahmen der Änderung seiner Rechtsprechung nach der Junk-Entscheidung des EuGH gewährte das BAG für sog. Altfälle Vertrauensschutz und behandelte Kündigungen bei verspäteter Anzeige nicht als unwirksam.[7]

 

Rz. 19

Das BVerfG entschied jedoch, für die Gewährung von Vertrauensschutz im Zusammenhang mit der Junk-Entscheidung sei der EuGH und nicht das BAG zuständig gewesen. Durch das Unterlassen einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV habe das BAG das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt.[8]

[2] Zur EuGH-Entscheidung und zu den praktischen Auswirkungen Appel, DB 2005, 1002; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445; Dornbusch/Wolff, BB 2005, 885; Ferme/Lipinski, ZIP 2005, 593; Lembke/Oberwinter, NJW 2007, 721; Nicolai, NZA 2005, 206; Osnabrügge, NJW 2005, 1093; Wolf, AuA 2005, 340.
[3] Vgl. EuGH, Urteil v. 10.9.2009, C-44/08 ("Akavan)", NZA 2009, 1083, Rz. 70.

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