1 Allgemeines

 

Rz. 1

Heute wird nicht mehr infrage gestellt, dass eine Kündigung gegen § 138 BGB verstoßen kann.[1] Auch wenn die Kündigung, wie das BAG feststellte, als eine auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärung ihrem Inhalt nach wertfrei ist, kann sie mit Rücksicht auf ihr Motiv oder ihren Zweck gleichwohl sittenwidrig sein (BAG, Urteil v. 23.4.1981, 2 AZR 1091/78[2]). Jedenfalls folgt aus der gesetzlichen Regelung des § 13 Abs. 2 KSchG, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit der Sittenwidrigkeit einer Kündigung ausdrücklich anerkannt hat. § 138 BGB stellt (ebenso wie § 242 BGB) keine Durchführung einer europäischen Richtlinie dar (BAG, Beschluss v. 8.12.2011, 6 AZN 1371/11[3]). Der in Art. 30 GRC geregelte Schutz von Arbeitnehmern vor ungerechtfertigter Entlassung ist nach nationalem Recht für Arbeitnehmer während der gesetzlichen Wartezeit des § 1 KSchG dadurch gewährleistet, dass von den Gerichten für Arbeitssachen überprüft wird, ob die Kündigung gegen die guten Sitten verstößt oder Treu und Glauben aus Gründen verletzt, die von § 1 KSchG nicht erfasst sind (BAG, Beschluss v. 8.12.2011, 6 AZN 1371/11, Ls.[4]).

[1] Zu früheren anderen Ansichten KR/Friedrich/Rinck, 11. Aufl. 2016, § 13 KSchG, Rz. 102 ff.
[2] Juris.
[3] NZA 2012, 286.
[4] NZA 2012, 286; vgl. Meyer, NZA 2014, 993.

2 Anwendungsbereich

 

Rz. 2

Die Tatbestände des § 138 BGB – der Verstoß gegen die guten Sitten (Abs. 1) und der Wucher (Abs. 2) – stellen einen allgemeinen Nichtigkeitsgrund dar. Kündigungsrechtliche Relevanz kommt lediglich dem in Abs. 1 genannten Nichtigkeitsgrund zu. Gleichgültig ist die Art des Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere, ob es sich um die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses oder eines Beschäftigungsverhältnisses sonstiger Art handelt; auch die Kündigungen eines Berufsausbildungsverhältnisses, die eines Dienstverhältnisses und eines Beschäftigungsverhältnisses mit einer arbeitnehmerähnlichen Person sind an § 138 BGB zu messen. Soweit ein Arbeitsverhältnis gekündigt wird, ist unerheblich, ob die Voraussetzungen der §§ 1 Abs. 1, 23 KSchG erfüllt sind; allerdings ist bei der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, das nach § 23 Abs. 1 Sätze 2, 3 KSchG nicht dem allgemeinen Kündigungsschutz unterfällt, zu beachten, dass die Sittenwidrigkeit in der Frist des § 4 KSchG geltend gemacht werden muss. Zur gerichtlichen Geltendmachung siehe weiter Rz. 26.[1] Die Kündigung Freiwilliger, die Dienst nach dem BFDG leisten und sich daher nicht auf den allgemeinen Kündigungsschutz des KSchG berufen können[2], unterliegt ebenfalls den Grenzen des § 138 BGB.[3]

 

Rz. 3

Unerheblich ist ferner die Art der Kündigung. Es kann sich um eine ordentliche oder eine außerordentliche Kündigung, eine Beendigungs- oder eine Änderungskündigung handeln[4]; freilich kann auch die Kündigung eines befristeten oder bedingten Arbeitsverhältnisses sittenwidrig sein.

Der Arbeitgeber kann u. U. gegen die guten Sitten verstoßen, indem er sich auf eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers beruft. Hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Aussichtslosigkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dargestellt und hat dieser daraufhin die Eigenkündigung erklärt, verstößt die Berufung des Arbeitgebers auf die Eigenkündigung aber nicht gegen § 138 BGB, wenn sich der Arbeitnehmer weder in einer seelischen Zwangslage befand, noch sonst in unzulässiger Weise in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt wurde (BAG, Urteil v. 9.6.2011, 2 AZR 418/10[5]).

[1] Vgl. Stelljes, § 13 KSchG, Rz. 22.
[4] HaKo-KSchG/Gieseler, 7. Aufl. 2021, § 13 KSchG, Rz. 48.
[5] AP Nr. 71 zu § 123 BGB.

3 Verhältnis zu anderen Vorschriften

 

Rz. 4

Bei der Abgrenzung der Sittenwidrigkeit zur Sozialwidrigkeit nach § 1 KSchG gilt im Grundsatz, dass nicht jede Kündigung, die im Fall der Anwendbarkeit des KSchG i. S. d. § 1 KSchG als sozial ungerechtfertigt beurteilt werden müsste, deshalb schon sittenwidrig ist. Das trifft selbst für eine willkürliche, d. h. für eine ohne erkennbaren sinnvollen Grund ausgesprochene Kündigung zu. Auch eine Kündigung, die "offensichtlich willkürlich oder aus nichtigen Gründen unter Missbrauch der Machtstellung des Arbeitgebers" ausgesprochen wird, ist nur sozialwidrig i. S. d. § 1 KSchG, nicht aber sittenwidrig (BAG, Urteil v. 23.4.1981, 2 AZR 1091/78[1]). Denn eine Kündigung ist – auch bei Zugrundelegung eines objektiven Beurteilungsmaßstabs – dann nicht sittenwidrig, wenn sie ohne Rücksicht auf die Nachweisbarkeit auf einen nicht nur vorgeschobenen Grund gestützt wird, der an sich geeignet ist, eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (BAG, Urteil v. 23.4.1981, 2 AZR 1091/78[2]). Eine Kündigung ist erst recht dann nicht sittenwidrig, wenn der Sachverhalt sie in einem Kündigungsschutzprozess mit großer Wahrscheinlichkeit als sozial gerechtfertigt erscheinen ließe (LAG München, Urteil v. 27.7.1976, 6 Sa 479/76[3])...

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