Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des beinamputierten Versicherten mit einem Gelenksystem unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts

 

Orientierungssatz

1. Eine Beinprothese ist ein Körperersatzstück i. S. des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB 5. Sie dient dem unmittelbaren Ersatz des fehlenden Körperteils. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts.

2. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nichtbehinderten Menschen durch die Funktion der Beine gewährleistet ist.

3. Das Genium-Gelenksystem der Fa. Otto Beck weist gegenüber dem C-leg-System desselben Herstellers deutliche Gebrauchsvorteile auf. Die Weiterentwicklung der Gelenkeinheiten ist dadurch geprägt, dass die natürliche Kniefunktion nahezu vollständig dem natürlichen Vorbild nachgebildet ist. Ist der Versicherte in der Lage, diese Gebrauchsvorteile zu nutzen, so hat er Anspruch auf Versorgung mit dem Genium-Gelenksystem.

 

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2014 verurteilt, den Kläger mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock für das rechte Bein zu versorgen.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist ausgebildeter Informatiker. Er ist im Zivilberuf bei der Bundeswehr beschäftigt. Aufgrund einer im Alter von neun Jahren im ersten Golfkrieg im Irak erlittenen Kriegsverletzung verlor er sein rechtes Bein. Bis 2004 war er mit konventionellen Prothesen versorgt. Der Kläger ist verheiratet und hat minderjährige Kinder im Alter von drei und sieben Jahren; er bewohnt eine Mietwohnung im dritten Obergeschoss und muss im Bereich des Wohnumfeldes Treppen überwinden.

Am 18.01.2010 verordnete der Chirurg Dr. I. eine Prothese des Typs C-leg der Firma Otto Bock für den rechten Oberschenkel. Die Beklagte lehnte den Versorgungsantrag nach Einholung fachlicher Stellungnahmen des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durch Bescheid vom 07.05.2010 und Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 ab. Im anschließenden Klageverfahren (Sozialgericht Frankfurt a.M. - S 25 KR 4/11) bewertete der beauftragte orthopädische Sachverständige im Gutachten vom 18.02.2012 die Versorgung mit einer C-leg-Prothese gegenüber einer herkömmlichen Prothesenversorgung positiv. Daraufhin erkannte die Beklagte den Versorgungsanspruch an und übernahm die Kosten für eine C-leg-Versorgung in Höhe von 26.246,23 EUR.

Nach seinen Fähigkeiten und Aktivitäten und seinem Potenzial wird der Kläger nach eigenen Einschätzung, der seiner behandelnden Ärzte und des MDK sowie der Gutachter und Orthopädietechniker den Mobilitätsgraden III (uneingeschränkter Außenbereichsgeher) bis IV (uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit besonderes hohen Ansprüchen) zugeordnet.

Am 31.05.2013 verordnete der behandelnde Orthopäde Dr. O. einen 2-Wochen-Test für ein "Genium Knie rechts". Die Firma Rahm Orthopädie GmbH legte für die Erprobung eines Genium-Kniegelenks der Firma Otto Bock einen Kostenvoranschlag von 2.527,25 EUR vor. Nach Einholung einer Einschätzung des verordneten Orthopäden und des Klägers sowie befürwortender Stellungnahmen des MDK vom 11. und 22.10.2013 bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 30.10.2013 die Kosten für eine Probeversorgung mit einem Genium-Kniegelenk. Nach einer mehrwöchigen Testphase stellte sich der Kläger am 11.12.2013 mit der getesteten Prothese beim MDK zur Begutachtung vor. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom selben Tag zum Ergebnis, das Gangbild zu ebener Erde sei nicht entscheidend anders als bei der Untersuchung am 18.10.2013; allerdings könne der Kläger mit dem neuen Modularbauteil rückwärts im Wechselschritt gehen, während er mit dem C-leg nur zum Beistellschritt in der Lage gewesen sei; auch gehe er über Treppen abwärts deutlich flüssiger. Aufwärts bewege er sich weiterhin im Beistellschritt. Insgesamt - so der MDK - seien Gebrauchsvorteile des Genium-Knie gegenüber dem C-leg erkennbar, ihr Ausmaß sei jedoch "vergleichsweise gering".

Am 21.03.2014 verordnete der Orthopäde Dr. O. dem Kläger ein Genium-Kniegelenk rechts. In einem Kostenvoranschlag vom 11.04.2014 bezifferte die Firma Rahm die Kosten für eine Versorgung mit dem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock unter Einbeziehung eines Rückkaufangebotes für das C-leg-Gelenksystem auf 30.431,51 EUR.

Durch Bescheid vom 22.04.2014 lehnte die Beklagte die beantragte Neuversorgung ab. Sie nahm auf die Stellungnahme des MDK Bezug, wonach Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg-Kniegelenk erkennbar seien, und behauptete, der MDK habe das Ausmaß der Gebrauchsvorteile als "vergle...

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