Rz. 20

Die Ausnahmeregelung des Abs. 4 ist bedenklich, weil sie das Neutralitätsgebot der Bundesagentur für Arbeit aufhebt. Die Vorschrift unterliegt engsten Grenzen. Sie birgt die Gefahr, dass in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit durch die Stimmen der öffentlichen Hand im Hinblick auf haushaltsmäßige Belastungen durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II an der Seite der Arbeitnehmervertreter der Beschluss des Neutralitätsausschusses ausgehebelt wird. Andererseits gewährleistet die Änderung des Abs. 4 im Anschluss an die Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit, dass stets das höchste Gremium der Selbstverwaltung, in Wirtschaftsunternehmen dem Aufsichtsrat vergleichbar, die Entscheidung trifft. So war es in der Vergangenheit stets, wenn sich die Auswirkungen eines Arbeitskampfes über den Bezirk einer Regionaldirektion hinaus erstreckten. Gegenstand des Abs. 4 ist nicht die Schaffung von Leitlinien für Neutralitätsentscheidungen.

 

Rz. 20a

Bei Abs. 4 handelt es sich um eine Auffangregelung. Ihre Anwendung setzt voraus, dass der jeweilige Leistungsanspruch nach Abs. 3 ruht. Von der Feststellungskompetenz ist durch eine Ermessensentscheidung Gebrauch zu machen. Das Gesetz misst ihr bereits nach dem Wortlaut Ausnahmecharakter zu; sie ist daher eng auszulegen. Außer Betracht bleiben müssen deshalb von vornherein Auswirkungen auf die Kampfparität; denn bestimmte Gruppen bilden allenfalls Minderheiten bei den betroffenen Arbeitnehmern ab, die aufgrund persönlicher oder wirtschaftlicher Verhältnisse nicht vom Alg ausgeschlossen werden sollen (z. B. behinderte oder kranke Menschen sowie Menschen mit besonderen persönlichen Bedürfnissen).

 

Rz. 20b

Abs. 4 erlaubt dem Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit nicht, Rechtsunsicherheiten in Bezug auf Abs. 4 zu beseitigen, die Vorschrift also in bestimmter Weise auszulegen (vgl. dazu schon BSG, Urteil v. 9.9.1975 7 RAr 5/73, SozR 4100 § 116 Nr. 1). Die Bezugnahme auf Abs. 3 sowie die Formulierungen "bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern" und "ausnahmsweise" besagen demnach im Zusammenhang mit dem Umfang der Neutralitätspflicht der Bundesagentur für Arbeit, dass der Gesetzgeber eine Auswahl aus der Gesamtheit der unter Abs. 3 dieser Vorschrift vom Ruhen der Leistung betroffenen Arbeitnehmer gewollt hat, so dass schon aus diesem Grunde die Auffassung nicht zutreffen kann, nach der es dem Verwaltungsrat nach Abs. 4 zustehen könnte, durch Beschluss die Rechtsunsicherheit darüber zu beseitigen, welche Arbeitnehmer überhaupt unter den Ruhenstatbestand des Abs. 3 fallen. Regelmäßig wird die "bestimmte Gruppe" im Verhältnis zur Gesamtzahl der Betroffenen von untergeordneter Bedeutung sein. Darüber hinaus erfordert die Neutralitätspflicht dem BSG zufolge, dass die Begünstigung einer Gruppe von Arbeitnehmern durch eine besonders schwierige wirtschaftliche Situation dieser Gruppe oder durch besondere Bedürfnisse der Betroffenen sachlich gerechtfertigt ist. Entscheidungen unter diesen Voraussetzungen entsprechen dem Grundsatz, dass Arbeitskämpfe nicht zu ruinösen Folgen oder unverhältnismäßigen Härten führen dürfen. Dieser Grundsatz findet seinen Niederschlag u. a. darin, dass der Anspruch auf Grundsicherung durch Arbeitskämpfe nicht berührt wird. Die Entscheidung des Verwaltungsrates wird durch die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit eingeholt. Allgemein wird angenommen, dass er einer Gruppe das Alg zusprechen darf, wenn das Ruhen des Anspruches zwar streitig ist, aber für den Fall des Ruhens eine Härte vorläge. Das ist auch der Grundgedanke für vorläufige Leistungen nach § 328. Ein Fall nach Abs. 4 wird umso wahrscheinlicher, je weiter die Betroffenen von dem eigentlichen Arbeitskampf entfernt sind, also eine mittelbare Betroffenheit erst im 2. oder gar 3. Grad vorliegt, weil z. B. ein Betrieb zur Kurzarbeit veranlasst wird, weil in einem mittelbar betroffenen Betrieb ein Produktionsausfall eintritt (mittelbare Betroffenheit 2. Grades). Die Zentrale wird über alle Ablehnungen nach Abs. 3, in Massenverfahren ggf. exemplarisch, unterrichtet. Auf die Rechtsauffassung der Agentur für Arbeit oder der betroffenen Regionaldirektion kommt es in Bezug auf Abs. 4 nicht an. Diese Betrachtungsweise unterstützt im Ergebnis auch den Neutralitätsgedanken, weil die Folgen von Verflechtungen und bedarfsnaher Produktion nicht allein zulasten der Arbeitnehmer gehen sollen.

 

Rz. 20c

Im Ergebnis entsprechen solche Entscheidungen des Verwaltungsrates dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot, das verletzt werden könnte, wenn Produktionsbedingungen der Weltwirtschaft allein zulasten des Arbeitnehmers gehen würden, wie das als Folge der Globalisierung durch mehrfach gestufte Fernwirkungen von Aussperrungen der Fall sein kann.

 

Rz. 20d

Weitere Gesichtspunkte für Entscheidungen nach Abs. 4 sind die individuelle Betroffenheiten einer Gruppe von Arbeitnehmern, wenn diese praktisch nicht von dem Arbeitskampf profitieren können, weil z. B. die wesentlichen Forderungen fü...

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